Das bis zum Ende des 17. Jahrhunderts noch großenteils zum Alten Reich zählende Elsass geriet in den beiden letzten Jahrhunderten zusehends in den Strudel sich übersteigernder antagonistischer Nationalismen in Europa. Seit 1871 hin- und hergerissen, wechselte es in 75 Jahren viermal den »Besitzer« – wurde zum umkämpften Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich. Der Vereinnahmung durch die eine Seite folgte regelmäßig beim nächsten Übergang ein umso kompromissloserer Gegendruck durch die andere. Die damals noch überwiegend deutschsprachige, in ihren städtischen Eliten aber bereits dem Leitbild der französischen »Nation« anhängende Bevölkerung wurde nicht gefragt. Den negativen Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die nationalsozialistische »Volkstumspolitik« in den Jahren 1940–19441. Nach dem militärischen Sieg über Frankreich und der völkerrechtswidrigen De-Facto-Annexion des Landes unter der Ägide des badischen NSDAP-Gauleiters und Chefs der Zivilverwaltung (C. d. Z.) im Elsass, Robert Wagner, setzte eine brachiale rassistische Germanisierungspolitik ein, die das Land endgültig für das »deutsche Volkstum« zurückgewinnen sollte.

Die Münsterstadt Straßburg mit ihrer altehrwürdigen Universität (heute: Université de Strasbourg) war im Kontext dieser deutsch-französischen Rivalität stets ein besonderes Prestigeobjekt. Nicht zuletzt, weil diese Institution, deren Ursprünge in die Zeit des Humanismus und der Reformation zurückreichen, trotz Zugehörigkeit zum katholischen Frankreich eine ausgeprägte deutsche protestantische Traditionslinie aufwies. Mit der Gründung der international bald anerkannten Kaiser-Wilhelms-Universität gleich zu Beginn der Reichslandzeit 1872 wurde hieran bewusst mit großem Aufwand angeknüpft. Umso begreiflicher wird, dass sofort nach der erneuten deutschen Einverleibung des Elsass 1940 die Idee Gestalt annahm, in Straßburg eine nationalsozialistische »Musteruniversität« (Frank-Rutger Hausmann) neu einzurichten, ohne auf personelle oder institutionelle Traditionen Rücksicht nehmen zu müssen.

Die Habilitationsschrift von Rainer Möhler, Privatdozent an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken, hat nun das ambitionierte Unterfangen, ja das Wagnis auf sich genommen, eine Art Gesamtschau dieses nur drei Jahre (1941–1944) währenden NS-Pilotprojekts vorzulegen. Sie reiht sich ein in die seit 30 Jahren boomende Erforschung der deutschen Universitäts- und Wissenschaftslandschaft der NS-Zeit2. Entstanden ist ein mit über 1100 Seiten geradezu voluminöses Werk. Wagnis schon deshalb, weil die Quellenlage zu dem Thema zunächst ungünstig erscheint. So ist der fast vollständige Verlust der Universitätsakten zu verzeichnen.

Unmittelbar nach der alliierten Einnahme Straßburgs am 23. November 1944, der eine überstürzte Flucht fast des gesamten reichsdeutschen Universitätspersonals vorausgegangen war, vernichteten, so Möhler, zurückgebliebene elsässische (sic!) Universitätsmitarbeiter die Bauakten, Kassenbücher, Rektorats- und Dekanatspapiere sowie die Gremienprotokolle der nach Tübingen zurückverlagerten Reichsuniversität. Anfang der 1960er-Jahre noch greifbare Personalakten von 238 Straßburger Universitätsangehörigen gingen im internen Behördenaustausch verloren. Sie gelten heute als verschollen. Großenteils erhalten sind nur die Dekanatspapiere der Philosophischen Fakultät, die der 1940 von den Nationalsozialisten eingesetzte Aufbaukoordinator der Reichsuniversität, der Dekan Ernst Anrich (1906–2001), bei der Flucht nach Deutschland an sich genommen hatte.

Möhlers Studie stützt sich, neben den einschlägigen sach- und personenbezogenen Unterlagen der zuständigen Landes-, Reichs- und oberen Parteibehörden sowie des früheren Berlin Document Centers in erster Linie auf bislang wenig ausgewertete Privatnachlässe zentraler Persönlichkeiten der Reichsuniversität. Hier ist vor allem der offenbar erhebliche und, wie die Lektüre zeigt, auch gehaltvolle Nachlass Ernst Anrichs zu nennen3. Ferner hat Möhler das umfangreiche zeitgenössische wissenschaftliche Schrifttum der von ihm untersuchten Personengruppe und die zu ihr nach 1945 entstandene reichhaltige, aber sehr verstreute biografische Literatur systematisch ausgewertet. Auf die flächendeckende Recherche nach ergänzenden Unterlagen aus der Zeit nach 1945 (darunter Entnazifizierungs- und Universitätspersonalakten), die nur in prominenten Einzelfällen erfolgte, hingegen hat der Autor – wohl wegen des (zu) hohen Rechercheaufwands – verzichtet.

Als Quellen sind außer den Beständen des Departementalarchivs in Strasbourg auch keinerlei weitere französische Archive aufgeführt. Es müsste aber, gerade mit Blick auf die Auslagerung der Vorgängerinstitution Université de Strasbourg nach Clermont‑Ferrand zu Kriegsbeginn 1939 (und deren Rückführung ab 1945), einschlägige Aktenbestände in Pariser Ministerien geben. Die Sicht Frankreichs auf die auf seinem Staatsgebiet von Seiten der Okkupationsmacht betriebene widerrechtliche Gründung einer »ausländischen« Bildungsanstalt fehlt in diesem Buch daher völlig.

Für die Analyse seines näheren Untersuchungsgegenstandes, des Lehrkörpers der Reichsuniversität Straßburg, bedient sich Möhler des seit den 1990er-Jahren populären Konzepts der »Politischen Generationen«4. Methodisch konzentriert er sich auf eine quantitativ sozialstatistische Erfassung der Personalstruktur sowie eine »qualitativ-hermeneutische Analyse des gemeinsamen Erfahrungshintergrunds und der weltanschaulichen Ausrichtung« (S. 23). Möhler stellt die Frage, ob sich das Bild einer zu einem »genuinen Tätertyp« (Michael Wildt) radikalisierten, im völkischen Milieu sozialisierten Akademikerschaft, die das ungeheure Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen erst ermöglicht hat, auf den Straßburger Lehrkörper übertragen lässt.

Seine Darstellung gliedert Möhler in vier Abschnitte: In Teil A »Ideen und Akteure« geht es um die Beschreibung der Aufbauarbeit der Reichsuniversität 1940/1941. Teil B »Institutionen und Akteure« stellt die vier Fakultäten mit dem Schwerpunkt auf der Philosophischen und der Naturwissenschaftlichen Fakultät vor. Teil C »Raum und Akteure« nimmt den »Grenzlandcharakter« der Universität in den Blick, während der eher kurze Teil D die lange Nachkriegsgeschichte der »Straßburger Kameradschaft« in der alten Bundesrepublik beleuchtet.

Mit über 500 Seiten nimmt das Kapitel über die Akteure den mit Abstand größten Raum ein. Ein flüchtiger Blick in das Inhaltsverzeichnis mit seiner Aneinanderreihung der verschiedenen Fakultäten und ihren Abteilungen mag dazu verleiten, hier eine im Detail ermüdende Institutionengeschichte zu erwarten. Doch weit gefehlt: Der Autor breitet, quellengesättigt und durchgängig gut lesbar, vor allem für die Anlaufphase der Universität das für die NS-Polykratie typische allgemeine Gezerre um die Durchsetzung spezifischer Interessen aus, das zu den üblichen aus dem Wissenschaftsbetrieb bekannten Eifersüchteleien und Ränkespielen noch hinzukam.

Für manch spannendes Detail, auch im Hinblick auf die Karrieren der Betroffenen nach 1945, fehlt hier der Platz. »Mittendrin« befand sich der Aufbauleiter und Dekan Ernst Anrich, die sicher schillerndste Persönlichkeit der Reichsuniversität: »Alter Parteigenosse«, aber nach einem Streit mit der Reichsjugendführung schon 1931 aus der Partei geworfen, gehörte er zu den entschiedenen Verfechtern einer neuen »völkischen, ganzheitlichen Wissenschaft« (S. 926), obwohl er am Ende mit seinen Bemühungen um eine nationalsozialistische Hochschulreform scheiterte. Auch nach 1945 blieb dieser (nicht nur) politische »Querdenker« in seinem Fühlen und Handeln Nationalsozialist und betätigte sich, neben seiner Aufgabe als Direktor der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, bis 1975 aktiv bei der NPD.

Welches Fazit zieht Möhler? Die Reichsuniversität war tatsächlich die »Nationalsozialistische Großdeutsche Universität«, die sie immer sein sollte und wollte, ein »Außenposten« des Nationalsozialismus an der Westgrenze des Reiches, den Blick auf ein zukünftiges, Deutschland zu Füßen liegendes Westeuropa gerichtet. Ihr Lehrkörper war eine weitgehend homogene Personengruppe nationalsozialistisch bewährter Akademiker mit einem gemeinsamen sozial-kulturellen, d. h. völkischen Hintergrund.

Die Mitgliedschaft in der Partei war nicht zwingend erforderlich. 90% der 98 Straßburger Professoren waren jünger als 50 Jahre, gehörten damit der »jungen Frontgeneration« bzw. der »Kriegsjugendgeneration« an. Diese Straßburger »Kameradschaft« war bis weit in die Nachkriegszeit wirkmächtig. Als »Landesuniversität« verstand sich die neue Reichsuniversität jedoch nie. Schließlich war die Reichsuniversität Straßburg auch ein Ort des Verbrechens: Im Namen der Forschung wurden KZ‑Häftlinge für eine wissenschaftliche »Skelettsammlung« ermordet und tödliche Menschenexperimente vorgenommen, die allerdings bereits an anderer Stelle als weitgehend erforscht gelten dürfen. Immerhin, so Möhler, scheint eine größere Zahl von Straßburger Wissenschaftlern, als bisher angenommen, von ihrer Existenz gewusst zu haben.

Ich halte fest, dass das eingangs konstatierte »Wagnis« nicht nur als gelungen betrachtet werden darf, gerade dem suchenden Leser bietet sich eine Fülle von neuem Material, das zum Weiterarbeiten animiert. Zumal das vorbildlich gegliederte Inhaltsverzeichnis, das Quellen- und Literaturverzeichnis am Anfang des Buches, die Fußnoten am jeweiligen Seitenende, die knappen, aber informativen Biogramme der Straßburger Hochschullehrerschaft im Anhang sowie ein Personenregister das »handliche« Arbeiten mit der »dicken Schwarte« sehr erleichtern.

Eine rhetorische Frage zum Schluss: Hätte diese Studie nicht besser vor 25 Jahren geschrieben werden sollen, als wichtige Repräsentanten der Reichsuniversität noch am Leben waren und über ihre Straßburger Zeit hätten berichten können? Aus Sicht Möhlers, der aus methodischen Erwägungen nicht viel hält von Zeitzeugeninterviews, wohl eher nicht! Der Fall des jüngsten Straßburger Professors, des späteren bekannten Friedens- und Konfliktforschers Carl Friedrich von Weizsäcker (1912–2007), mag ihm recht geben. Der stets eine hohe Moral einfordernde Philosoph und Wissenschaftler »verstummte« regelmäßig, wenn die Sprache auf seine Zeit an der Reichsuniversität kam. Niemals im Leben äußerte sich der von 1942 bis 1944 unmittelbare Hausnachbar des medizinischen »Massenmörders August Hirt« zu den damals verübten Verbrechen (S. 921). Sicher geredet hätte aber Ernst Anrich, der »Querkopf«, dem in der Bundesrepublik eine Wissenschaftskarriere zeitlebens verwehrt blieb.

1 Lothar Kettenacker, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsass, Stuttgart 1973.
2 Seit 2010 auch vermehrt zu Straßburg; als Überblick vgl. Frank-Rutger Hausmann, Reichsuniversität Straßburg, in: Michael Fahlbusch u. a. (Hg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme, Berlin, Boston ²2017, Bd. 2, S. 1624–1631.
3 Ferner die Nachlässe von Rektor Karl Schmidt, Kurator Richard Scherberger sowie der Professoren Günther Franz und Ernst Rudolf Huber; darin auch nach 1945 entstandene, wertvolle »Erinnerungen« der Betroffenen.
4 Zentral dazu Ulrich Herbert, Best. Biografische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Berlin 1996; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hubert Roser, Rezension von/compte rendu de: Rainer Möhler, Die Reichsuniversität Straßburg 1940‒1944. Eine nationalsozialistische Musteruniversität zwischen Wissenschaft, Volkstumspolitik und Verbrechen, Stuttgart (Kohlhammer) 2020, LXXXVI‒1047 S., 30 Abb., 55 Tab. u. Diagr. (Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen, 227), ISBN 978-3-17-038098-1, EUR 88,00., in: Francia-Recensio 2021/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80032