TV-Dokumentationen, Ausstellungen, Schulbücher und Buchcover nutzen immer noch gerne die NS-Propagandabilder zur reinen Illustration und laufen dabei Gefahr, deren suggestiven Kraft aufzusitzen und sie mit der historischen Realität zu verwechseln. Das läuft der mittlerweile etablierten Erkenntnis der Visual History entgegen, dass visuelle Quellen intentional hergestellt und wirkmächtig sind. In »Bilder einer Diktatur« zeigt Gerhard Paul, dass das einheitliche Erscheinungsbild, das aufgrund der Verwendung der immer gleichen Propagandabilder entsteht, nicht der historischen Realität entsprach, sondern viele, durchaus diverse Bildpraxen nebeneinander existierten. Dafür deckt Paul ebenjene Praxen auf, verfolgt aber auch das Nachleben der Bilder und wie sie zur gegenwärtigen visuellen Konstruktion des »Dritten Reichs« beitragen.
Gerhard Paul arbeitet maßgeblich am deutschsprachigen Zweig der Visual History mit und hat zu diesem Forschungsfeld dutzende Bücher und Aufsätze veröffentlicht. Explizit theoretische Überlegungen kommen in »Bilder einer Diktatur« jedoch nicht vor, was das Buch für Laien nahbarer macht, für Forschende jedoch einige Fragen offen lässt, zum Beispiel nach der Definition von Pauls Bildbegriff, analysiert er doch Fotografien, Film Stills, Gemälde und Poster, die mal für den privaten, mal für den propagandistischen Gebrauch erstellt wurden, und spricht auch von »Bildern in unseren Köpfen«.
Jedem der 42 ausgewählten Bilder widmet er ein Kapitel mit gleichem Aufbau: Den Anfang macht immer ein großformatiger Abdruck des zentralen Bildes zusammen mit einer Bildbeschreibung und einem Absatz dazu, wie Paul das erste Mal auf die Quelle stieß. Durch diese persönlichen Hinweise gelingt es ihm, die subjektive Auswahl der 42 Bilder nachvollziehbar zu machen. Es folgen übersichtliche Ausführungen zu den oftmals verschlungenen Entstehungsgeschichten der Bilder und ihren vielfältigen Wirkungsweisen. In jedem Kapitel kommen zahlreiche Abbildungen hinzu, die der Kontextualisierung oder der Kontrastierung des zentralen Bildes dienen und damit Pauls Thesen im Text unmittelbar anschaulich machen. Die Kapitel sind chronologisch geordnet und reichen von 1932 bis 1945, wobei die Zeit von 1932 bis 1939 ungefähr 200 der ca. 500 Seiten umfasst, während der Schwerpunkt mit 300 Seiten auf der Kriegszeit liegt. Ein Drittel der Seiten betreffen Verfolgung und den Holocaust.
Es ließen sich bestimmt auch weitere Bilder denken, die einen Platz im Buch hätten finden können, aber die vorgestellten bieten doch einen herausragenden Überblick über unterschiedlichste Themen und Gebrauchsweisen über den gesamten Zeitraum hinweg. Darunter sind ikonische Bilder wie das von Sophie Scholl, der Rampe in Auschwitz oder Propagandazeichnungen von Plakaten, die die »Volksgemeinschaft« im Krieg versprachen, aber auch weniger bekannte Bilder wie Aufnahmen aus einem Amateurfilm über die Massenerschießungen in Liepāja oder Fotografien des Auftritts des »Reichsstatistenführers« 1941, einem öffentlichen Protest der Swing-Jugend in Hamburg.
Bei den bekannten Bildern bietet Paul neue Perspektiven, so zum Beispiel beim Foto des Chanukkaleuchters im Fenster mit Blick auf die Hakenkreuzflagge an der gegenüberliegenden Häuserwand: Steht es mittlerweile für Gefahr und Widerstand im Nationalsozialismus, war es von der Fotografin Rachel Posner konkret als Kommentar zur angespannten Lage in Kiel 1932 inszeniert worden.
Gerhard Paul kann auch bei unbekannteren Aufnahmen einiges in der Analyse zu Tage fördern, so beim Kapitel zum Schnappschuss »Der Einmarsch«, der aufgebrachte Prager Bürger und einen vorbeifahrenden Kübelwagen mit den Besatzern zeigt. Durch die Kontrastierung von bildlichen und textuellen Zitaten werden die Einzelwirkungen der Quellen aufgelöst und ein komplexes Stimmungsgemisch der Prager Bevölkerung zwischen Apathie, Zustimmung und Verzweiflung skizziert.
Andere Kapitel nutzen das Ausgangsbild als Sprungbrett, um weniger bekannte Seiten des Nationalsozialismus zu beleuchten, zum Beispiel die aus den »nationalen Meistererzählungen« herausfallende Allianz zwischen deutschen Truppen und der Roten Armee, die bei der Übergabe der besetzten polnischen Stadt Brest-Litowsk an die Rote Armee durch eine Militärparade inszeniert wurde. An solchen wenigen Stellen entsteht aber auch das Problem, dass Paul seine Thesen der parallelen Bildpraxen und des Nachlebens der Bilder aus dem Blick zu verlieren droht, womit »Bilder einer Diktatur« in diesen Abschnitten zu einer generischeren Geschichte des Nationalsozialismus anhand von Bildern zu werden tendiert. Das scheint dem Anspruch geschuldet zu sein, gerade auch eine nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit anzusprechen, ist aber für Historiker und Historikerinnen bedauerlich, weil die anderen Kapitel, die in ihrer Analyse enger bei den Bildern bleiben, viel überzeugender sind.
Auch dass in Fußnoten nur direkte Zitate nachgewiesen werden, nicht allerdings zentrale Forschungsthesen, deren Provenienz sich über die Sammelbibliografie am Ende jedes Kapitels nur erahnen lässt, scheint der anvisierten Leserschaft geschuldet zu sein. Zudem fehlt ein Index, der eine schnelle Orientierung erleichtert hätte. Bedauerlich ist sowohl für Laien als auch für Forschende, dass ein abschließendes Fazit fehlt, das die Einzelbefunde aus den Kapiteln zusammenführt und interessante Parallelentwicklungen und Brüche aufzeigt, die ansonsten anhand der Querverweise innerhalb der Kapitel selbst hergestellt werden müssen.
Die Kritik soll jedoch nicht schmälern, was Gerhard Paul hier vorgelegt hat, nämlich, wie Carsten Hueck (Deutschlandfunk Kultur) so treffend schreibt, eine »aufklärende Schule des Sehens«. Wovon Historikerinnen und Historiker wie Laien gleichermaßen profitieren können, sind neben den konkreten historischen Erkenntnissen zu den jeweiligen Bildern gerade die Einblicke in Pauls Arbeitsweise bei der Analyse der Materialien. Darüber hinaus ist »Bilder einer Diktatur« dank seiner breiten Fundierung in der Forschungsliteratur und Pauls herausragender Quellenkenntnis ein anregendes, für viele wissenschaftliche Bereiche anschlussfähiges und darüber hinaus auch noch ausgezeichnet lesbares Werk, das jedem ans Herz gelegt werden kann, der sich im Hinterfragen von visuellen Quellen üben möchte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Annina Hofferberth, Rezension von/compte rendu de: Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des »Dritten Reiches«, Göttingen (Wallstein) 2020, 528 S., 219 Abb. (Visual History. Bilder und Bildpraxen in der Geschichte, 6), ISBN 978-3-8353-3607-0, EUR 38,00., in: Francia-Recensio 2021/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80090