Seinem Tagebuch vertraute er im September 1901 an: »Ein guter Teil meines Herzens und fast alle meine Studien gehören Italien und seiner Geschichte, vor allem der Stadt der Päpste.«
Zu diesem Zeitpunkt war Ludwig Pastor (die Erhebung in den erblichen Freiherrenstand erfolgte erst 1916) nicht nur ein international bekannter und anerkannter Historiker mit einem Lehrstuhl an der Innsbrucker Universität, sondern stand kurz vor seiner Ernennung zum Direktor des Österreichischen Historischen Instituts in Rom. Sein Ruf gründete in seinem Hauptwerk, dessen erster Band 1886 erschien und dem bis 1933 noch weitere 21 Bände folgen sollten: die »Geschichte der Päpste«. Pastor gehörte zu den ersten Historikern, die Zugriff auf die im Vatikanischen Archiv lagernden Quellenmassen erhielten. 1881 hatte sich Leo XIII. zur Öffnung des Archivs durchgerungen – und Pastor, dem Zeit seines Lebens die Tugend der Bescheidenheit fremd blieb, schrieb sich selbst einen großen Anteil daran zu, hatte er doch 1879 auf Wunsch des neuen Archivpräfekten Hergenröther eine Denkschrift über die Verwertung des Archivs an den Papst gesandt.
In den 13 Beiträgen des vorliegenden Bandes wird nicht nur die Persönlichkeit Pastors, sondern auch sein Werk und dessen Rezeption einer näheren Betrachtung unterzogen. Die Publikation versteht sich als dritter Teil eines Triptychons, dessen zentraler Gegenstand die Darstellung »hochangesehener katholischer Gelehrsamkeit« (S. 61) in den Jahrzehnten vor und nach 1900 ist. Die beiden ersten Bände waren den Gelehrtenpersönlichkeiten Heinrich Denifle und Franz Ehrle gewidmet1. Denifle, Ehrle und Pastor kannten sich, betrieben historische Forschung und verbrachten einen großen Teil ihres Lebens in Rom – Ehrle und Denifle als Männer der Kirche, Pastor als zum Katholizismus konvertierter protestantischer Laie. Andreas Sohn skizziert in seinem einleitenden Beitrag mit sicherem Strich Pastors Lebensweg, der ihn von Aachen und Frankfurt am Main über Innsbruck nach Rom führte (S. 19–73).
Pastors Lebens- und Arbeitsmotto orientierte sich an einem Vers aus Juvenals Satiren: »Vitam impendere vero« (Sein Leben der Wahrheit weihen). »Wahr« war die göttliche Verfasstheit der römischen Papstkirche, zu deren größtem Apologeten sich Pastor in seiner Papstgeschichte aufschwang. Von seiner eigenen Bedeutung war er durchdrungen. Thomas Brechenmacher spricht diesbezüglich in seinem Beitrag zu Stilisierung, Sozialisation und Selbstverständnis eines Papsthistorikers erfrischend offen von der »Hochglanzfassade seiner eigenen Sendung, Bedeutung und Leistungsfähigkeit«, von der »extremen Selbststilisierung«, und charakterisiert ihn als »egozentrische, schwierige Persönlichkeit« (S. 125). Pastors charakterliche Schwächen waren auch den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. Bereits zu Beginn seiner Karriere beklagten seine beiden bestens vernetzten Förderer Johannes Janssen und Onno Klopp die charakterlichen Defizite: den Mangel an äußeren Umgangsformen und – am problematischsten – seinen Hochmut.
Doch nicht nur Negatives fiel auf. Ihm wurden zu Recht Fleiß, Ehrgeiz, Beharrlichkeit, Organisationsvermögen und Networking in Kirche, Politik und Gesellschaft bescheinigt. Michaela Sohn-Kronthaler beschreibt die Anwendung dieser Eigenschaften in der Praxis mit Blick auf Pastors akademische Laufbahn in Österreich (S. 143–177). Deutlich wird, wie stark er um seine Position kämpfen musste und welchen Widerständen er beim Durchlaufen der unterschiedlichen universitären Hierarchieebenen begegnete. Den Wechsel nach Rom an die Spitze des Österreichischen Historischen Instituts dürfte er durchaus als Befreiung empfunden haben. Nicht zufällig gilt das Jahrzehnt zwischen 1901 und 1911 als »Blütezeit« des Instituts, das erfolgreich als transnationale Einrichtung der Monarchie fungierte.
In seinem Beitrag sagt Andreas Gottsmann dazu das Nötige (S. 179–206). In Rom saß Pastor an der Quelle. Tatsächlich war es der Zugang zu den Beständen des Vatikanischen Archivs, dem er höchste Priorität einräumte. 1887 hatte er einen Ruf an die neu gegründete Katholische Universität in Washington mit der Begründung abgelehnt, dort seine Papstgeschichtsforschungen nicht fortsetzen zu können. In Rom war ihm dies möglich. So erstaunt es, dass, wie Sergio Pagano in seinem Aufsatz nachweist (S. 209–222), Pastors Präsenz im Archiv im Zeitraum von Januar 1879 bis Oktober 1901 nur 40 Mal belegt ist. Das lässt den Schluss zu, dass er dort nur die breiten Schneisen schlug, die eigentliche (Transkriptions-)Arbeit aber von anderen erledigt wurde.
In den Bänden seiner Papstgeschichte weist Pastor selbst immer wieder auf solche Mitarbeiter hin, verschleierte aber wohl deren tatsächlichen Beitrag zum Entstehen des Mammutprojekts. Dem Vatikan blieb Pastor über den Tod hinaus verbunden: Alle schriftlichen Aufzeichnungen hinterließ er der Vatikanischen Bibliothek. Christine Maria Grafinger präsentiert ein Inventar des Nachlasses Pastors (Lascito Pastor) in der Biblioteca Apostolica (S. 238–251), das der Forschung zukünftig gute Dienste leisten wird.
Mit der Rezeption der »Geschichte der Päpste« beschäftigen sich Olivier Poncet für Frankreich (S. 321–339), Thomas O’Connor für England und die USA (S. 341–354), Paolo Vian für Italien (S. 355‑370) und Ludwig Vones für Spanien (S. 371–387). Die Beschäftigung mit Pastors »monument à la gloire de la papauté« (S. 264) fiel unterschiedlich aus. In Italien leistete das Werk gute Dienste bei der Selbstvergewisserung eines Katholizismus, der dabei war, sich nach den nationalen Ereignissen von 1870 neu zu ordnen. In Spanien war dieses Phänomen ebenfalls zu beobachten – mit dem Nebeneffekt, dass der Blick der spanischen Forscher nun auch auf die in den spanischen Archiven verwahrten Quellenmassen gelenkt und zur Korrektur so mancher »spanienfeindlichen« Bemerkung Pastors genutzt wurde.
Trotz aller ausgebreiteten Fakten bleiben einige Aspekte unbehandelt. Von nicht geringem Interesse wäre etwa die Frage danach, wie sich Pastor in der Anfangszeit seiner akademischen Karriere als Privatdozent und unbesoldeter Extraordinarius finanzierte. Konnte der »Erstakademiker aus begütertem mittelständischem Milieu« (S. 128) auf eigenes Vermögen zurückgreifen? Wie gestaltete sich sein Verhältnis zur Kunst? Wolfgang Augustyn beschreibt zwar knapp Pastors Verhältnis zu den bildenden Künsten (S. 295–317), was jedoch völlig unerwähnt bleibt, ist ein mögliches Interesse für Musik und (zeitgenössische) Literatur. Wie konnte sich Pastor auf römischem Parkett ohne solide Kenntnisse in diesen Bereichen bewegen?
Pastors Werk ist gelehrt und »engagiert« zugleich – und dennoch besteht bis heute ein Dissens in Hinblick auf seine eigentliche Bedeutung. Handelt es sich um den ultimativen Triumph positivistischen Sammeleifers, dem jedwede Form inhaltlicher Durchdringung mangelt? Oder pflegt, wofür sich Jaques Verger in seinen Ausführungen zum mediävistischen Hintergrund des Gelehrten stark macht (S. 255–275), Pastor eben doch einen philosophischen Zugriff auf die Geschichte? Eines immerhin ist unumstritten: Pastor ergänzte Zeit seines Lebens die bisher erschienen Bände seiner Papstgeschichte um neu erschienene Literatur und neue Quellenfunde und scheute nicht das Urteil seiner kritischen Fachkollegen. Tatsächlich sollte und konnte ihm niemand vorwerfen, er habe die Geschichte verfälscht. Wird er heute noch gelesen? Jacques Verger gibt in seiner Zusammenfassung (S. 389–394) eine Antwort: »Ohne Zweifel, aber gewiss weniger als früher und mit einer zuweilen herabsetzenden Einstellung« (S. 393).
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ralf Lützelschwab, Rezension von/compte rendu de: Andreas Sohn, Jacques Verger (Hg./dir.), Ludwig von Pastor (1854‒1928). Universitätsprofessor, Historiker der Päpste, Direktor des Österreichischen Historischen Instituts in Rom und Diplomat/Ludwig von Pastor (1854‒1928). Professeur, historien des papes, directeur de l’Institut historique autrichien de Rome et diplomate, Regensburg (Schnell & Steiner) 2020, 440 S., 25 Abb., ISBN 978-3-7954-3476-2, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2021/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80096