Die Zerstörungskraft von Naturereignissen wird heutzutage vor allem über Bilder vermittelt, in Hollywood haben Katastrophenfilme Dauerkonjunktur. Katastrophen und ihre Darstellungen in den schweizerischen Bilderchroniken des Spätmittelalters sind prädestiniert, um mit interdisziplinärem Ansatz und medientheoretischen Werkzeugen die Text- und Bildgenese sowie deren Trans- und Intermedialität zu beleuchten. Dies ist denn auch Anspruch und primäre Forschungsfrage der Autorin und entspricht zugleich einem breiten historischen Interesse – eine optimale Ausgangslage für packend erzählte und reich bebilderte aktuelle Forschung.
Die Dissertation von Daniela Schulte, die dem Buch zu Grunde liegt, entstand im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunktes (FNS) »Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen. Historische Perspektiven« an der Universität Zürich zwischen 2013 und 2017. Als primäres Erkenntnisinteresse wird in der Einleitung der »Akzent auf die Konstruktion von Stadtzerstörungen als geschichtsträchtige Ereignisse« (S. 11) gelegt und die notwendigen Ausgangspunkte nebst den Definitionen von Katastrophe, Ereignis, Chronistik und einem Überblick über die Quellenlage geboten. Eine theoretisch fundierte und reflektierte Fragestellung ist außerhalb der kommentierten Absichtserklärungen (S. 18–21) nicht erkennbar. Es ist mit nur 13 Textseiten überhaupt eine sehr knappe Einleitung, ohne Verweise auf den Forschungsstand, präzisere Darlegung der gewählten Untersuchungsmethoden oder die geplante Einbettung der Resultate in die disziplinären Forschungsdiskurse.
Die selbstgewählten Leitplanken der Untersuchung im Kapitel »Chronistik mit Bildern« sind so eng, dass kaum übergeordnete Erkenntnisse zu erwarten sind. Das betrifft zuerst das Quellenkorpus, welches auf »Chroniken, die besonders viele Abbildungen von Zerstörungen vorweisen« (S. 18f) beschränkt wird, wobei die omnipräsenten Kriegszerstörungen ausgeblendet werden. Die Verweise reichen bei der inhaltlichen Analyse auch nur selten über diesen engen Quellenbestand von sechs [sic!] handschriftlichen und zwei gedruckten Chronikwerken hinaus, auch wenn die Werke jeweils von lokaler Vorgänger- und Begleitschriftlichkeit abhängen1. Dabei gäbe es ein Füllhorn an Chroniken, deren Inhalte und historiografische Bearbeitungen zwingend hätten konsultiert werden müssen2. Auf sich allein gestellt können Forschungsstand, die zeitgenössische Wirkung und die historiografische Relevanz der untersuchten Bilderchroniken nur sehr limitiert erfasst werden und erlauben keine gültigen Rückschlüsse auf Chronistik und Historiografie.
Als Ausgangspunkt der Forschung »bereits im 19. Jahrhundert« (S. 26) wird der Kunsthistoriker Josef Zemp (1897) genannt; kaum ein Wort von Aegidius Tschudis wirkmächtigem »Chronicon Helveticum«, der um ca. 1570 eine eigentliche Summa seiner Vorgänger vorlegte und der zudem mustergültig ediert und kommentiert ist; kein Wort von der vaterländischen und bürgerlichen Geschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts, die ihre Erkenntnisse maßgeblich auf die untersuchten Chroniken des 15. und 16 Jahrhunderts stützte, und kaum etwas zu den frühen Editionen und Faksimiles dieser Chroniken, die ab den 1930er Jahren der Forschung den Zugang zu Texten und Bildern erlaubten. Diese Aufarbeitung der Forschung und ihre Rezeption wäre zu erwarten gewesen; schwerwiegender ist es allerdings, dass zentrale Werke zur Chronistik und zur historischen Materialität zwar im Literaturverzeichnis enthalten sind, ihre Erkenntnisse aber ignoriert werden3. Somit sind bereits die Grundlagen der Forschungsfragen veraltet und selektiv. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der schweizerischen Historiografie und ihren lokalen Eigenheiten, die weitgehend auf den Binnenbezügen von Chroniken und Urkunden aufbaut, fand offensichtlich nicht statt.
Trotz all dieser Versäumnisse der Forschungsplanung erschien eine positive Besprechung noch möglich: eine historiografisch unbelastete, medientheoretisch fundierte und inhaltlich dichte Darstellung der Katastrophenereignisse in den bearbeiteten Quellen bietet mehr als genug Stoff für Analyse und Deutung. Jedoch bleibt auch diese Chance ungenutzt. Es gibt keine synoptische Einführung zur Beschäftigung der Chronisten mit den bearbeiteten Ereignissen, keine Fallzahlen, kaum Jahreszahlen und nur spärliche Details zum Kenntnisstand der berücksichtigen (Natur-)Katastrophen4. Selten fügt die Autorin Hintergründe zum dargestellten Ereignis bei. Das ist schade und zielt am Interesse der Leserschaft am »Faktischen« vorbei. Dabei ist die Analyse dort am dichtesten und schlüssigsten, wo die Fakten und Darstellungen in Chroniken und Begleitschriftlichkeit parallel analysiert und auf ihre Intention, mediale Wirkung und intertextuellen und -medialen Bezüge hin geprüft werden können. Dies gelingt zu drei Ereignissen besonders gut: einerseits in der Analyse der Chronikinhalte zum bereits breit untersuchten Erdbeben in Basel von 1356 (S. 69–86), zum Aarehochwasser in Bern von 1480 (S. 105‑107, 110, 128), und zum Stadtbrand von Mellingen 1505 (S. 169f, 189f).
Die Beschreibung von Krisenbewältigung durch die (städtische) Gemeinschaft und ihren medialen, langfristigen Strategien der Erinnerung erfolgt verlässlich, allerdings ohne neue Erkenntnisse. Die »Wiederherstellung von Ordnung« (Kapitel 4, S. 141–203) erfolgt wiederum weitgehend ohne Rezeption der reichen Literatur und damit ohne Bezüge zu den entsprechenden Forschungsdiskursen.
Dem Anspruch, die Interaktion von Text und Bild innerhalb der Ereignisdarstellungen mit medienanalytischem Zugang zu untersuchen, wird das Buch nicht gerecht. Der erste Grund dafür ist die mangelhafte kodikologische Grundlage. Der zweite Schwachpunkt ist die fehlende ikonologische Beschreibung und Analyse, welche Bezüge zwischen Bildaufbau, Kontext und dargestellten Bildmotiven sichtbar und übergreifend vergleichbar macht. Der dritte und entscheidende Mangel ist die fehlende methodische Verbindung zwischen Text- und Bildanalyse. Ein medientheoretischer Ansatz über die Intermedialität wird nicht umgesetzt und so gleitet der Text weitgehend erkenntnisfrei von Beispiel zu Beispiel. Das Einmalige und Dramatische, das die Verbindung von Katastrophenthematik, Bilderchronik und Geschichtskonstruktion bietet, wird so nicht greifbar.
Das Kapitel »Geschichte schreiben. Mediale Formen der Inszenierung von Katastrophen« (S. 205–208) fasst die Resultate von vier Jahren Arbeit am Nationalen Forschungsschwerpunkt zusammen. Über Gemeinplätze und Erkenntnisse, die sich auch aus aktiv rezipierter Fachliteratur ergeben hätten, geht der Text kaum hinaus. Weiter reichen leider weder die Komplexität der Fragestellung, noch die angewandten Mittel von Auswahl und systematischer Analyse der Quellen, fachlicher Phänomenologie, forschungsdiskursrelevanter Kontextualisierung und interdisziplinärer Verwertbarkeit der Resultate.
Die Publikation hinterlässt den Rezensenten angesichts des vielversprechenden Themas, der opulent bebilderten Chroniken als Quellenkorpus und der großen Bandbreite möglicher Motive, Methoden und Ansätzen zur Bearbeitung mehr als enttäuscht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Heinrich Speich, Rezension von/compte rendu de: Daniela Schulte, Die zerstörte Stadt. Katastrophen in den schweizerischen Bilderchroniken des 15. und 16. Jahrhunderts, Zürich (Chronos) 2020, 246 S., 41 Abb. (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen, 41), ISBN 978-3-0340-1436-6, CHF 48,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80258