Ein Jahrhundert nach Erscheinen steht Huizingas »Herbst des Mittelalters« in Frühlingsblüte. Neue, kommentierte und zum Teil illustrierte Ausgaben des Werkes werden vorgelegt, so eine von Graeme Small und Anton van der Lem besorgte englische (2020) und eine ebenfalls von van der Lem herausgegebene niederländische »jubileumeditie« (2018); eine vorzügliche neue deutsche Übersetzung stammt von Annette Wunschel (2018), der ja auch die rezente Übertragung von Huizingas Briefen zu verdanken ist. Und in der Nachfolge von »Reading Huizinga« (Willem Otterspeer, 2010) drängt es gar manche, aus Anlass des Centenarium ihre aus erneuter Lektüre des Meisterwerks gewonnenen Einsichten zu publizieren.
So schloss sich an den Sammelband »Rereading Huizinga. Autumn of the Middle Ages a Century Later« (2019) unmittelbar der hier anzuzeigende mit Beiträgen zum Teil derselben Autorinnen und Autoren an, der seinerseits auf einem im Dezember 2018 an der Universität Lille abgehaltenen Kolloquium basiert. Wenn auch betont bzw. bemüht auf Abgrenzung bedacht (vgl. S. 17), sind diese Studien doch eher als komplementär zu betrachten, wobei sie nun unter einem Huizinga entnommenen einprägsam-anschaulichen Obertitel stehen, der – seinerseits eine Passage aus dem Journal des sogenannten »Bourgeois de Paris« aufgreifend – damit einen »superbe oxymore olfactif« formulierte, »par lequel il faisait du contraste produit par des odeurs violentes et contradictoires (›l’odeur mêlée du sang et des roses‹) l’emblème, en quelque sorte, de toute la fin du Moyen Âge« (so hier Nicole Bériou, S. 183).
Was uns daran erinnert, welch impressionistischer Zauberer der Leidener Historiker war, der, intuitiv und eklektisch vorgehend, gleichsam mit wenigen Pinselstrichen Stimmungen zu evozieren verstand und sein nach eigenem Bekunden mosaikhaftes Arbeiten einschätzte »als ein Schweben über den Gärten des Geistes, ein da und dort an die Blumen Tippen und dann rasch wieder weiter Gehen« (Mein Weg zur Geschichte, vgl. hier S. 122, Anm. 3). Schon 1905 hatte er in seiner Groninger Antrittsvorlesung geäußert, die Wahrnehmung des Historikers lasse sich am besten als ein »Blick auf Bilder« bezeichnen.
Natürlich trug ihm dies immer wieder Kritik ein, die auch in diesem Band anklingt; Damien Bouquet und Laurent Smagghe gilt er daher gar als »dangereux magicien« (S. 193). Auch die für die Grundthese seines »Herbst« ausschlaggebende Sicht auf die Kunst der Gebrüder van Eyck als Finalissimo höfisch-mittelalterlicher Kultur, als Ausdruck elegischer Dekadenz – das Buch sollte ursprünglich »Im Spiegel von van Eyck« heißen – wird erneut kritischer Analyse unterzogen (Bertrand Cosnet, »Les primitifs au prisme de Johan Huizinga: ›L’art des van Eyck est une fin‹«, S. 101–119), wie überhaupt – zum wievielten Mal eigentlich? – seine Darstellung vor allem des aristokratischen Lebens der Zeit als letzter, schwerer und schwüler Blüte in mehreren Beiträgen Korrektur bzw. Differenzierung erfährt. Was insbesondere für seinen Entwurf eines späten sinnentleerten Rittertums gilt, ohne dass im Übrigen dabei der Name Malcolm Vale fiele, der sich mit der Thematik intensiv in seiner Monografie »War and Chivalry« (1981) auseinandersetzte (Benjamin Deruelle, »›L’idée de chevalerie‹. Du crépuscule de la chevalerie à l’histoire des représentations chevaleresques«, mit nur summarischer Namennennung in einer längeren Autorenliste S. 173, Anm. 99).
Zwei weitere Beiträge, die Huizinga als vielseitig interessierten Intellektuellen in der literarischen Welt seiner Zeit verorten wollen, gemahnen in ihrer unfranzösischen Schwere an kaum verdauliche Kost aus literaturwissenschaftlichen Küchen deutscher Provenienz mit postmodernen und poststrukturalistischen Ingredienzien (Jelle Koopmans, »Johan Huizinga et la ›morphophilie‹ des années 1920«, S. 69–86 und besonders Estelle Doudet, »Un Automne impensé. Johan Huizinga et l’histoire littéraire française aux XXe‑XXIe siècles«, S. 87–100), während ein Aufsatz von Christophe de Voogd über das komplex-komplizierte Verhältnis Huizingas zu Marc Bloch und Lucien Febvre, den Gründungsvätern der Annales-Schule, dagegen tiefdringend und zugleich verständlich und nachvollziehbar ist (S. 39–67): Der Niederländer war stark von deutschen geisteswissenschaftlichen Traditionen geprägt (Dilthey, Windelband, Simmel) und tat sich mit einer Geschichte, die, struktur- und statistikbasiert, mehr oder minder zu einer von Regularien und Gesetzmäßigkeiten bestimmten Laboratoriumswissenschaft im kartesianischen Geist umgebaut werden sollte, naturgemäß schwer.
Zwei Beiträge seien noch besonders hervorgehoben: Die Studie des um die Huizinga-Forschung hochverdienten Anton van der Lem, Konservator an der Bibliothek von Huizingas Heimatuniversität Leiden, befasst sich sehr konkret mit der höchst eigenwilligen Herstellung des »Herbst«-Manuskripts (»Schere und Umschläge«) und geht kundig auf die ersten Übersetzungen des Werks ein, speziell auf die via dolorosa (vgl. hier de Voogd, S. 40, Anm. 6) bis zum Erscheinen der französischen Ausgabe 1932 – interessierte Kollegen in Frankreich hatten das Buch längst in der deutschen Übersetzung von 1924 rezipiert –, die zudem wegen ihres verzerrenden Titels »Le déclin du Moyen Âge« und des Fehlens des die eigentliche Thematik umreißenden und damit zum Verständnis unabdingbaren Untertitels »Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden« unter wenig glücklichen Vorzeichen stand und erst 1975 durch eine Neuausgabe abgelöst werden sollte (S. 25–37).
Der Beitrag von Nicole Bériou, »Religion, culture et communication. Les ›intuitions‹ de Johan Huizinga« (S. 175–191), schließlich lenkt den Blick auf das neben dem Höfischen zentrale Element des Religiösen im »Herbst« (Kap. 12–14), um dann aber vorrangig ihrem Lehrer Michel Mollat ein Denkmal zu setzen, wobei sie vor allem auf dessen Anfang der 1960er Jahre an der Sorbonne gehaltene und in vervielfältigter Form erhaltene Kurse eingeht: »La vie religieuse aux XIVe et XVe siècles (jusqu’à 1449)/La vie et la pratique religieuses au XIVe siècle et dans la première partie du XVe, principalement en France«. Auch wenn Mollat darin wiederholt auf Huizinga rekurrierte, wobei er dessen Endzeit-Tableau eher skeptisch betrachtete, sind seine Darstellungen natürlich ein opus sui generis. Der Rezensent kann die seinerzeitige »influence de ces cours polycopiés sur les jeunes chercheurs« (S. 185, Abs. 24) aus etwas späterer persönlicher Erfahrung vor Ort nur bestätigen. Das alles fügt sich aber, ebenso wie ein Seitenblick auf das Œuvre von Jacques Chiffoleau, einem weiteren (»Teil-«)Schüler von Mollat, der auf dem Kolloquium übrigens einen hier nicht zum Druck gebrachten Vortrag »Huizinga et les formes de la piété flamboyante« hielt, bisweilen nur mit Müh und Not in das Generalthema, allein für die betroffenen Zeitgenossen interessant ist’s allemal.
Wer in Ermangelung einer Konklusion zumindest vom einleitenden Artikel der Herausgeberin Élodie Lecuppre-Desjardin einordnende Hinweise zu den einzelnen Beiträgen oder gar eine kurze Einführung in Huizingas Leben und Werk erwartet, wird enttäuscht. Vielmehr will sie zu Anfang (S. 9–23) bewusst Reflexionen über Probleme der Huizinga-Forschung für Fortgeschrittene und Spezialisten bieten, wobei sie insbesondere veraltete und überwundene wie noch offene und aktuelle Positionen im »Herbst« markiert, was sie dann des Näheren in einer eigenen, zusammen mit Thalia Brero, Expertin für das savoyische Spätmittelalter, verfassten Fallstudie an Huizingas Zentralsujet des burgundischen Hofs demonstriert (S. 121–148). Schon durch den Vergleich mit den Höfen eben Savoyens wie Englands, aber auch durch Hinweise auf die von Werner Paravicini und dessen Schülern geleistete Erfassung der administrativen und personellen Dimensionen des Hofs zeichnen sich essentielle Weiterungen gegenüber dem von Huizinga fast ausschließlich auf der Basis erzählender Quellen gezeichneten Hofbild ab.
Ja, die Einseitigkeiten des »Herbst« und damit die Notwendigkeit einer gewissen »Entherbstung« sind ebenso evident, wie es Spannungen und Brüche im Denken Huizingas selbst sind. Doch gibt das Faktum seiner unverminderten Beliebtheit, ja Faszination nach mehr als einem Jahrhundert zu denken. Eignet manch großen Werken der Geschichtsschreibung nicht zuletzt eben wegen ihrer Einseitigkeiten eine Aura des geradezu soghaft Genialen; man denke nur an Autoren wie Pirenne und Kantorowicz oder Bloch, Toynbee und Braudel?
Darüber hinaus bereitet der »Herbst« schlicht Lesevergnügen – Huizinga soll ernsthafter Kandidat für den Literaturnobelpreis gewesen sein –, und so war es denn auch für den Rezensenten eine angenehme Seite der Besprechung, aus diesem Anlass wieder einmal in die Welt des geschätzten Magiers einzutauchen, dem jenes Eichendorffsche Zauberwort zu eigen war, das eine ferne Welt vom ersten Satz an zum Klingen bringt: »Als die Welt noch ein halbes Jahrhundert jünger war, hatten alle Geschehnisse im Leben der Menschen viel schärfer umrissene äußere Formen als heute. Zwischen Leid und Freude, zwischen Unheil und Glück schien der Abstand größer als für uns« – das bleibt.
Was dagegen, ungeachtet manch anregender und weiterführender Bezüge, die Lektüre des anzuzeigenden Bands verschattet, sind hochgeschraubte Wortkaskaden wie »vague du structuralisme qui sape les méthodes lansonniennes en proclamant la mort de l’individu créateur, en réclamant la mise en relation des structures de production et des structures textuelles, et en promouvant, sous les plumes de Barthes et de Genette, un formalisme ahistorique« (Estelle Doudet, S. 96) – nein, das bleibt nicht.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Élodie Lecuppre-Desjardin (dir.), L’odeur du sang et des roses. Relire Johan Huizinga aujourd’hui, Villeneuve-d’Ascq (Presses universitaires du Septentrion) 2020, 220 p., ISBN 978-2-7574-2960-0, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80276