In der Burgund-Forschung gilt Jean Germain seit Langem als eine höchst interessante Figur: wegen seiner Herkunft aus einer unfreien Familie, seiner diplomatischen Aktivitäten, seines Einsatzes für das Kreuzzugsprojekt Philipps des Guten, seines Wirkens als Prediger und Schriftsteller sowie als Stifter. Einzelne Aspekte seines Lebens wurden behandelt, insbesondere in einer umfangreichen Arbeit von Yvon Lacaze aus dem Jahr 1958, die aber schwer zugänglich blieb. Im Jahr 2020 erschien dann mit der Dissertation von Eric Burkart1 eine Monografie, die das Wirken Germains am burgundischen Hof mit einem originellen Ansatz erschloss. Der vorliegende Band nimmt sich vor, Germain insgesamt die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen und weitere Forschungen anzuregen.

In einer Einleitung ordnet Heribert Müller (S. 5–7) das Vorhaben der Herausgeber in die Forschungsgeschichte ein. Die beiden ersten Beiträge bieten Grundlegendes zu Leben und Karriere Germains. Jacques Paviot (S. 9–30) widmet sich seiner Herkunft und seiner Karriere in Diensten des Herzogs von Burgund. Germains Wirken als Bischof behandelt Delphine Lannaud (S. 31‑38). Wie er stammten die meisten burgundischen Bischöfe dieser Zeit aus der Region, aber anders als Germain kamen fast alle Amtskollegen aus adligen Familien. Dank seiner engen Bindung an den burgundischen Hof gelang ihm der Aufstieg ins Bischofsamt recht früh, mit 35 Jahren. Als Theologe war er eine Ausnahme unter vielen Juristen. Es gelang ihm, vom kleinen Bistum Nevers in das bedeutendere und einträglichere Bistum Chalon-sur-Saône zu wechseln.

Die Beziehungen Germains zu den Domherren von Chalon und damit sein persönliches Umfeld in der Bischofsstadt umreißt Jacques Madignier (S. 39–56). Die Stellung des Domkapitels gegenüber dem Bischof war seit Anfang des 15. Jahrhunderts geschwächt, und seine Ausstattung mit Gütern war bescheiden. Seine Mitglieder waren jedoch gut ausgebildet; rund zwei Drittel von ihnen hatten eine Universität besucht. Wichtig für den Bischof waren diejenigen Domkanoniker, die hochrangige Verwaltungsfunktionen in der Diözese wahrnahmen, vor allem die Archidiakone. Seine engen persönlichen Mitarbeiter, d. h. die Generalvikare, Offiziale und Vertrauten, brachte der Bischof fast alle im Domkapitel unter. Einige dieser Personen waren auch bei seinen Stiftungen beteiligt. Unter anderem erweiterten sie nach seinem Tod mit ihrem eigenen Geld die Stiftungen ihres Wohltäters.

Die folgenden Aufsätze wenden sich den Werken des Bischofs im weiteren Sinne zu. Eines seiner schriftstellerischen Werke analysiert Audrey Szymczak (S. 57–76): ein Handbuch, das Pfarrern und anderen Seelsorgern die Grundlagen ihrer Tätigkeit vermitteln sollte. Wie der Titel »Les deux pans de la tapisserie chrétienne« zeigt, waren sicherlich zwei Teile vorgesehen, doch liegt nur der erste vor, wohl weil der Verfasser verstarb. Erhalten sind sieben Handschriften des Werks, also recht wenig angesichts der großen Zielgruppe. Doch war der Text umfangreich und deswegen teuer, außerdem auch sehr komplex, denn anders als ähnliche Werke, von denen es im 15. Jahrhundert viele gab, betonte Germain nicht die pastoralen und die lebenspraktischen Aspekte, sondern die dogmatischen. Wohl um das Verständnis zu erleichtern, sah der Autor vor, dass das Werk Bilder enthalten sollte. Ausgeführt sind sie aber nur in zwei Handschriften. Abbildungen dieser Bilder samt Transkriptionen der erläuternden Texte, die der Autor hinzufügte, sind dem Aufsatz beigegeben. Hier zeigt sich, dass sich Text und Bilder in effektiver Weise ergänzen (S. 77–89).

Ein anderes Thema von Germains schriftstellerischem Wirken bestand in der Auseinandersetzung mit dem Islam. Diesen Aspekt beleuchtet Tristan Vigliano anhand eines Briefwechsels zwischen Germain und Johannes von Segovia, von dem aber nur die Schreiben des Letztgenannten erhalten sind (S. 91–99). Die beiden Gelehrten kannten sich vom Basler Konzil. Im Sommer 1455 wandte sich Segovia dann an Germain, weil er von dessen Werk »Débat du chrétien et du sarrasin« gehört hatte, das ins weitere Umfeld der burgundischen Kreuzzugspläne einzuordnen ist. Allerdings hatte Segovia ungenaue Informationen erhalten, denn während er selbst für eine friedliche Bekehrung der Muslime war, lehnte Germain diese Vorstellung als unrealistisch ab. Der Briefwechsel endete daher bald. Sehr interessant sind jedoch die beiden Briefe, mit denen Segovia auf Germains Antwort reagierte, denn in ihnen lassen sich die Argumente und die Überzeugungen von Germain klar erkennen.

Den nicht-literarischen Spuren, die Jean Germain hinterlassen hat, gilt das Interesse von Jean-Bernard de Vaivre (S. 101–127). Es geht um das Wappen des Bischofs und sein Siegel, um Inschriften, die an seine Handlungen als Bischof erinnern, nämlich an die Weihe von vier Kirchen, um das Grabmal seines Vaters in der Karmeliterkirche von Dijon, deren Bau der Bischof unterstützte, und vor allem um sein eigenes Grabmal, das Germain in einer Kapelle der Kathedrale von Chalon errichten ließ.

Eric Burkart (S. 129–136) bietet einen Überblick über Germains schriftstellerisches Werk und verzeichnet insbesondere alle bekannten Handschriften der Werke sowie – soweit vorhanden – deren Editionen. Damit legt er eine wertvolle Grundlage für weitere Forschungen. Dasselbe gilt für die Edition bzw. Neuedition von fünf französischen Texten Germains (S. 137–170), die von Jacques Paviot, Elizabeth E. A. Brown und Audrey Szymczak stammen.

Ein kräftiger Anstoß ist nun gegeben, um dieser Person als Bischof, Autor und Stifter die ihr gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Es ist zu hoffen, dass diese Initiative Wirkung zeigt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Malte Prietzel, Rezension von/compte rendu de: Delphine Lannaud, Jacques Paviot (dir.), Jean Germain (v. 1396–1461). Évêque de Chalon. Chancelier de l’ordre de la Toison d’or. Actes de la journée d’étude, Chalon-sur-Saône, 27 octobre 2018, Chalon-sur-Saône (Société d’histoire et d’archéologie de Chalon-sur-Saône) 2019, 171 p., ISBN 978-2-901836-01-8, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2021/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80290