Das österreichische Bundesland Tirol sowie die italienischen Provinzen Südtirol und Trentino sind heute bekanntlich durch nationale Landesgrenzen getrennt. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs formten sie allerdings eine mehr oder weniger zusammenhängende Region, die sich durch eine gemeinsame Geschichte auszeichnet. Diese Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, hat sich das an den Universitäten Bozen, Innsbruck und Trient angesiedelte Projekt Historegio zum Ziel gesetzt. Historegio förderte zu diesem Zweck in den letzten Jahren etwa die Durchführung wissenschaftlicher Tagungen oder die Veröffentlichung von Publikationen zu verschiedenen Themen der Regionalgeschichte.

Das Projekt unterstützt außerdem die Übersetzung bereits erschienener Arbeiten zu Aspekten der gemeinsamen Vergangenheit, die bisher entweder nur auf Deutsch oder Italienisch vorlagen, in die jeweils andere Sprache: Jüngst erschien eine deutsche Übersetzung der Monografie »L’impero asburgico« des Trienter Universitätsdozenten Marco Bellabarba. Die Monografie, die in Italien bereits 2014 publiziert wurde, stellt eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert dar – jenem übergreifenden Staatengebilde, dem Tirol, Südtirol und das Trentino bis 1918 angehörten.

Die Studie Marco Bellabarbas zeichnet sich vor allem durch einen ungewöhnlich moderaten Umfang (ca. 170 Seiten ohne Anhang) sowie eine logische argumentative Struktur aus: In fünf kurzen Kapiteln fasst der Autor die umfangreiche und komplexe Geschichte des Habsburgerreiches durch das 19. Jahrhundert hinweg zusammen: Das erste Kapitel enthält zunächst eine Einführung in die Zeit vor 1800, in der die »Doppelnatur« der Herrschaft der Habsburger erläutert wird. Bis 1806 herrschte das Haus Habsburg nämlich nicht nur über seine Territorien in Mittelosteuropa, sondern hatte auch die Kaiserwürde inne. Es war nach Bellabarba das Prestige der Kaiserkrone, das es den Habsburgern ermöglichte, die Herrschaft über all ihre »Besitzungen« überhaupt aufzubauen und 1804 schließlich – unter dem Druck der napoleonischen Expansionsbestrebungen – das Erbkaisertum Österreich zu gründen.

Angesichts des eher losen Bundes mit den deutschen Reichsterritorien avancierte das Kaisertum zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr zu einem eigenständigen Staat. Dieser Staat war, wie der Autor in den an das Einführungskapitel anschließenden Teilen der Arbeit schildert, in erster Linie darum bemüht, in den von ihm beherrschten, multiethnisch geprägten Gebieten eine gemeinsame politische Identität auszubilden; seine Untertanen strebten dagegen immer stärker nach nationaler Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Wie der Autor richtig darstellt, versuchte das Kaisertum zunächst durch das Aufrechterhalten ständischer Strukturen sowie mit »neoabsolutistischer« Härte ein einheitlich politisch-bürokratisches Herrschaftssystem herzustellen. Als dies nicht funktionierte, »experimentierten« die Habsburger in der Folge mit Verfassungsänderungen, wobei weder zentralistische noch föderalistische Perspektiven der richtige Weg zu sein schienen.

Auch der 1867 angestrebte österreichisch-ungarische Ausgleich, der den Magyaren, der zweitgrößten ethnischen Gruppe innerhalb der Monarchie, weitgehende Autonomie zusprach, lässt sich in den Versuch einordnen, dem ethnischen Flickenteppich, den das Habsburgerreich im 19. Jahrhundert darstellte, eine gemeinsame politische Identität zukommen zu lassen. Der Ausgleich brachte jedoch das genaue Gegenteil hervor: Er verstärkte soziale Konflikte innerhalb des Habsburgerreichs und führte zu wachsenden Differenzen zwischen den Völkergruppen, die sich nunmehr gegenseitig »bekriegten«. Marco Bellabarbas Monografie schließt mit den Ereignissen im Kontext des Ersten Weltkriegs, in deren Folge Österreich-Ungarn schließlich zerfiel.

Wie dem Vorwort (verfasst von Günther Platter, aktuell Landeshauptmann von Tirol) und der Einleitung der Arbeit zu entnehmen ist, verfolgt Marco Bellabarba mit der Monografie zwei konkrete Ziele: Die Monographie erhebt zum einen den Anspruch, eine Art Handbuch zu sein. Sie versteht sich nicht als Arbeit rein wissenschaftlicher Natur, sondern richtet sich, so ist bei Historegio zu lesen, zugleich an ein historisch interessiertes Laienpublikum in Tirol, Südtirol und im Trentino, aber auch an Interessierte außerhalb der Region.

Auf der anderen Seite will Marco Bellabarba mit der Arbeit aber auch einen Beitrag zum aktuellen wissenschaftlichen Diskurs liefern, indem er die Geschichte des Habsburgerreichs durch das 19. Jahrhundert hindurch, das stets als Epoche des Niedergangs aufgefasst wurde, neu zu interpretieren versucht. Der Autor möchte das Habsburgerreich nicht allein anhand seiner rückständigen bürokratischen Strukturen beurteilen oder gar als »Völkerkerker« begreifen, wie es diejenigen Forschergenerationen zu tun pflegten, die den Zerfall Österreich-Ungarns noch als Zeitzeugen miterlebt hatten; der Autor verfolgt vielmehr die Absicht, das Habsburgerreich in seiner Gänze zu betrachten – als politisches System, das seine Untertanen mitunter »Zwängen« unterwarf, sich gleichzeitig allerdings als »Anhäufung von Reichtum und Macht« darstellte und den in ihm lebenden Völkern auf diese Weise Stabilität sowie Sicherheit bot.

Marco Bellabarbas Ansatz der Neuinterpretation überzeugt nur bedingt: Dafür ist in erster Linie der makrohistorisch geprägte Ansatz der Arbeit verantwortlich, der es dem Autor unmöglich macht, abseits vom politischen Geschehen die »Geschichte der Verflechtungen von Opportunismus und Loyalität, von Interessen und Gefühlen« (S. 5) nachzuzeichnen, wie er es eingangs als Forschungsziel benennt. Eine Analyse, der es aber nicht unbedingt um eine Schilderung der politischen Geschehnisse in chronologischer Abfolge, sondern vielmehr um eine Darstellung »von unten«, also aus Sicht der Bevölkerung geht, hätte diese Verflechtungen deutlich klarer aufzeigen können; so erschienen in den letzten dreißig Jahren bereits mehrere Studien, welche mittels tiefgreifender historischer Mikroanalysen neue Erkenntnisse über das Habsburgerreich zutage zu fördern vermochten. Die Arbeit wirkt neben diesen Studien weitaus weniger innovativ. Dies ist schließlich aber nicht nur auf die Methodik, sondern auch darauf zurückzuführen, dass die Darstellung ausschließlich auf Sekundärliteratur beruht und der Autor im Gegensatz zu seinen Kollegen aus der anglo-amerikanischen Forschungslandschaft keine Primärquellen in die Analyse mit einbezieht.

Darüber hinaus leidet der Versuch der Neuinterpretation an kleinen Eigenheiten im übersetzten Fließtext, die den Lesefluss erheblich stören und zulasten der Qualität der wissenschaftlichen Analyse fallen: Den mit der Sprache und Geografie der dem Habsburgerreich zugehörigen Territorien vertrauten Leserinnen und Lesern dürften die vielen fehlerhaften Schreibweisen von Namen (etwa slawischen oder ungarischen Ursprungs) sowie die nicht einheitliche, teils umstrittene Verwendung von Ethnien- oder Ortsbezeichnungen, denen zudem keine Erklärung vorausgeht, auffallen; des Weiteren weisen sprachliche Ausdrücke, die ohne Anführungszeichen gesetzt werden, wie etwa »protestantische Seuche« (S. 9) auf eine mangelnde Distanz zum Gegenstand hin (Stichwort »sine ira et studio«).

So ist schließlich zu sagen, dass es der Arbeit insgesamt gesehen nicht gelingt, an den aktuellen Forschungsdiskurs anzuschließen; sie erfüllt letztlich nicht die Ansprüche, die ein wissenschaftliches Publikum an eine Neuinterpretation der Geschichte des Habsburgerreichs stellt.

Das Buch ist somit als Arbeit aufzufassen, die sich weniger an den »Experten«, als vielmehr an jene Leserinnen und Leser richtet, die sich einen ersten Überblick über die Geschichte des späten Habsburgerreiches verschaffen und dabei von einer modernen Forschungsmeinung profitieren wollen. Dem ersten Ziel der Arbeit werden Marco Bellabarba und Historegio also durchaus gerecht: Der logische argumentative Aufbau dürfte es Leserinnen und Lesern ohne größere historische Vorkenntnisse möglich machen, die Geschichte des Habsburgerreiches binnen 170 Seiten Lektüre für sich zu erschließen. Einzig die Veröffentlichung in einem wissenschaftlichen Buchverlag steht nach Ansicht der Rezensentin einer breiteren Rezeption durch ein nichtwissenschaftliches Publikum im Weg; man wird die Monografie wohl nicht in der nächstbesten Buchhandlung finden.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sabrina Rospert, Rezension von/compte rendu de: Marco Bellabarba, Das Habsburgerreich 1765–1918. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Mit einem Vorwort von Günther Platter, Berlin, Boston (De Gruyter Oldenbourg) 2020, X–193 S., 2 farb. Kt. (Transfer), ISBN 978-3-11-067488-0, EUR 29,95., in: Francia-Recensio 2021/1, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80295