Der Name des im Jahr 1852 gegründeten Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg zeugt heute noch von der politischen Brisanz des Nationalstaatsgedankens im 19. Jahrhundert. Die Idee von einem deutschen Einheitsstaat stieß in den Gliedstaaten des deutschen Bundes zunächst jedoch auf breite Ablehnung. Der Museumsgründer Hans von Aufseß präsentierte durch die Verknüpfung von »germanisch« und »deutsch« einen Kompromiss, den gemeinsamen Ursprung aller deutscher Staaten im Germanentum zu finden. Umso mehr verwundert, dass die offizielle Internetseite des Museums noch heute eben jenes Narrativ aufgreift und in keiner Weise kontextualisiert.

Auch eine Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit des Museums während der Zeit des Nationalsozialismus bleibt hier aus, was im Hinblick auf die zentrale Rolle Nürnbergs als Stadt der Reichsparteitage durchaus fragwürdig ist. Die Internetseite verweist lediglich auf die »politisch und kulturell fortschrittliche Vision« des Museumsgründers. Dieser Versuch, die deutsche Einheit auf eine gemeinsame germanische Abstammung kulturell zu begründen, mag zwar für das 19. Jahrhundert fortschrittlich gewesen sein, aus unserer heutigen Perspektive bedarf es jedoch eines differenzierteren Umgangs mit solchen Narrativen. Bis heute halten sich in Museen und Ausstellungen diese Meistererzählungen, die als Denkmuster zur Schaffung von nationalen Identitäten dekonstruiert werden müssen.

Einen solchen kritischen Ansatz verspricht, wie Titel und Untertitel des Bandes »Luoghi controversi della memoria – I musei nazionali europei/Kontoverse Erinnerungsorte – Europäische Nationalmuseen« andeuten, das 2020 erschienene Jahrbuch des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient. In den Vorbemerkungen geben die Reihenherausgeber Christoph Cornelißen und Eduardo Tortarolo zunächst einen historischen Überblick auf Entstehung und Gründung von Nationalmuseen, die »einen grundlegenden Beitrag zur Pflege von nationalen Identitäten« (S. 8) leisten. Während Erinnerungskulturen im 19. Jahrhundert vor allem nationale und koloniale Bestrebungen der europäischen Mächte legitimierten, indem die Errungenschaften der eigenen Kultur einer breiten Öffentlichkeit präsentiert wurden, forderten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts »neue gesellschaftliche Ansprüche […] eine kritischere Haltung gegenüber offiziösen Geschichtsdeutungen« (S. 8) und eine Abkehr von vorgegebenen, universalen Masternarrativen.

Die zunehmende Historisierung der Gegenwart, bedingt durch das wachsende öffentliche Interesse an der Vergangenheit ab den 1970er-Jahren, stelle in diesem Zusammenhang einen entscheidenden Schritt zur Entstehung von multiperspektivischen Zugängen dar. Viele der hier vorgestellten Erinnerungsorte verfolgen diese neuen Ansätze. Demgegenüber halten sich jedoch auch »Rudimente der nationalen Meistererzählungen« (S 10), die dem »Anspruch zum Aufbau einer transnationalen Geschichtskultur oder gar einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur« (S. 10) nicht gerecht werden, wie die in den Beiträgen thematisierten Fallbeispiele zeigen sollen.

Dabei stellt die von Silvia Cavicchioli und Gabriele B. Clemens verfasste Einleitung über »Nationale Erinnerungskulturen und Erinnerungspolitik in der neueren und neuesten Geschichte Europas (1770–2020)« die wesentlichen Themen und Inhalte der insgesamt fünf Artikel im Einzelnen vor. Die beiden Autorinnen, die für die Konzeption des vorliegenden Themenhefts verantwortlich zeichnen, suchen zunächst nach den Ursprüngen europäischer Nationalmuseen und ordnen die in den Artikeln diskutierten Fallbeispiele in vergangene wie auch aktuelle Debatten der Geschichts- und Museumswissenschaften ein.

Die Aufsätze beleuchten museale Erinnerungsorte aus fünf Ländern und ermöglichen aus dieser transnationalen Perspektive eine differenzierte Auseinandersetzung mit »zeitgenössischen Nationsvorstellungen und staatspolitischen Ideologien« (S. 13) in Vergangenheit und Gegenwart. Eine nähere Beschäftigung mit den nationalen Erinnerungskulturen der europäischen Nachbarn sei auch, so Cavicchioli und Clemens, ein notwendiger Schritt für das Verständnis der »gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Konstellationen« (S. 23) des jeweils Anderen.

Den ersten Fall liefert Umberto Levra, der sich dezidiert mit der Entstehungsgeschichte des Museo Nazionale del Risorgimento Italiano in Turin auseinandersetzt. Dieses Nationalmuseum gilt seit seiner Gründung im Jahr 1878 als wesentliches Mittel, um den italienischen Einigungsprozess und die Ausbildung eines Gemeinschaftsgefühls nach dem Tod des Königs Vittorio Emanuele II zu konsolidieren. Levra betont den nationalen Charakter der Ausstellungen, die seit dem 19. Jahrhundert identitätsstiftend wirken sollten. Während viele Nationalstaaten in eine symbolisch aufgeladene gemeinsame Vorvergangenheit flüchteten, um den nation building-Prozess zu legitimieren, fand in Italien ein starker Bezug zur Zeitgeschichte (aus der Sicht der jeweiligen Zeitgenossen) und den militärischen Erfolgen des piemontesischen Herrschergeschlechts statt. Erst im Zuge umfangreicher Renovierungsarbeiten im Jahr 2011 wurde die alte Ausstellung umgestaltet und neu konzipiert, die nun durch den Vergleich mit anderen europäischen Nationsbildungen ein weitaus differenzierteres Bild auf den eigenen nationalen Gründungsmythos entwerfe.

Ines Heisig präsentiert in ihrem Beitrag »Das Germanische Nationalmuseum Nürnberg als Elitenprojekt 1830–1871«. Sie blickt auf die Anfänge der Museumsgeschichte und fragt vor allem nach der Rolle privater und staatlicher Akteure für die Errichtung dieses Erinnerungsortes zur Konstruktion einer deutschen Kulturnation. Heisig diskutiert dabei die bis heute in der Forschung vertretenen Deutungen eines »bürgerlichen und national-patriotischen« Entstehungskontextes und zeigt anschaulich, dass das persönliche Interesse des Adels an der Ausstellung mittelalterlicher feudaler Zustände zum Zweck des Standes- und Prestigeerhalt als wesentlicher Faktor zur Realisierung des Museums beigetragen habe.

Bürgerliche und akademische Eliten, die in den Fördererkreisen maßgeblich beteiligt waren, konnten im Gegenzug von der Nähe zu jenen adeligen Reputationsgemeinschaften profitieren. Dabei erwähnt Heisig auch die Rolle der Bezeichnung »germanisch« statt »deutsch«, die den propagandistischen Anspruch des Museums, einen identitätsstiftenden Beitrag »für alle ›Menschen deutscher Zunge‹« (S. 75) zu leisten, widerspiegle. Da sich dieser grundfalsche Anachronismus – wie die Autorin zu Recht feststellt – »bis heute hält« (S. 76), wäre an dieser Stelle ein zusätzlicher Blick auf die heutige Ausstellungs- und Museumskonzeption durchaus aufschlussreich gewesen.

Mit der Auseinandersetzung von Migrationserfahrungen und ihrer Repräsentation in französischen Erinnerungskulturen beschäftigt sich der Beitrag von Dominique Poulot. Als europäische Einwanderungsgesellschaft mit kolonialer Vergangenheit stehe Frankreich vor der zentralen Herausforderung, auch für Eingewanderte nationale oder kulturelle Identitätsangebote zu schaffen. In den »Sozialmuseen« (»musées de société«) des 20. Jahrhunderts bildeten jene Migrationserinnerungen (»mémoires des migrations«) jedoch lange Zeit nur eine Randerscheinung, die sich trotz Globalisierungstendenzen in den vergangenen Jahrzehnten weiterhin gegen nationale Narrative der »klassischen« Museen (»musées ›classiques‹«) behaupten mussten. Auch erinnerungspolitische Maßnahmen von staatlicher Seite, wie das 2011 von Präsident Sarkozy ins Leben gerufene und letztendlich gescheiterte Projekt zur Gestaltung einer Maison de l’histoire de France, bezeugen diese Entwicklung.

Am Beispiel des Musée de l’histoire de l’immigration und aktueller Debatten der Museumsforschung diskutiert Poulot verschiedene Überlegungen zur Entwicklung von multiperspektivischen Zugängen zur Migrationsgeschichte. Da es durchaus problematisch ist, von einer einzigen »histoire des immigrés« zu sprechen, als handle es sich bei Eingewanderten um eine homogene Gruppe mit einer Geschichte, verweist der Verfasser nicht ohne Grund auf die Notwendigkeit, auch unterschiedliche kulturelle Gemeinschaften und deren komplexe Migrationserfahrungen miteinzubeziehen.

Robert Traba fragt in seiner vergleichenden Studie nach den theoretischen und konzeptionellen Unterschieden sogenannter martyrologischer Museen in Polen und deutscher Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Dabei stellt Traba als Ausgangspunkt die semantische Nähe der polnischen Begrifflichkeit von »loci memoriae (Orte der Erinnerung/miejsca pamięci) und Orten des Martyriums als Ort[e] des Leidens der Nation« (S. 103) heraus. Die Konzeption und Funktion des gemeinsamen Erinnerns sei demnach nicht nur von deutsch-polnischen Wechselbeziehungen abhängig, sondern gleichermaßen von geschichtspolitischen, daher nationalen Interpretationen von Vergangenheitsbildern, mit denen eine kollektive Identität konstruiert werde.

Die bemerkenswerte vergleichende Analyse der beiden Erinnerungskulturen und ihrer inkongruenten Entwicklung spiegelt dabei exemplarisch die Grundproblematik des Bandes wider: Die Herausforderung für den Aufbau einer europäischen Erinnerungskultur bestehe nämlich darin, einerseits die »Andersartigkeit« (S. 132) der vielen nationalen, gesellschaftlichen und kulturellen Erinnerungskulturen jeder Nation oder Gemeinschaft wahrzunehmen, andererseits in einen gemeinsamen Dialog und Austausch zu treten, um »Europa als eine historisch gewachsene Kommunikationsgemeinschaft« (S. 131) zu verstehen.

Einen ähnlichen komparatistischen Ansatz verfolgt der letzte Aufsatz, aus der Feder von Stefan Berger, der zwei Londoner Militärmuseen und deren Ausstellungskonzeptionen aus dem Jahr 2017 gegenüberstellt. In seiner theoretischen Einleitung stellt der Verfasser drei grundlegende Typen von Erinnerungsnarrativen (antagonistisches, kosmopolitisches und agonistisches Erinnern) vor, von denen er zwei auf die beiden britischen Museen anwendet. Das Imperial War Museum biete, so Berger, eine antagonistische Perspektive: Es erzählt die Geschichte des britischen Weltreichs, das sich – von seinen europäischen Nachbarn um seinen Reichtum und Einfluss beneidet – gegen die aggressiven Angriffe des Deutschen Reiches habe wehren müssen.

Durch persönliche Objekte gefallener und in Heldengalerien ausgestellter Soldaten schaffe das Museum Identifikationsangebote, indem eine emotionale Bindung zwischen Betrachtenden und der eigenen Nation hergestellt werde. Ganz anders das National Army Museum, das eine agonistische Sichtweise, damit aber auch multiperspektivische Deutungen zulässt. So werden die Museumsbesucher und -besucherinnen nicht nur ständig mit unterschiedlichen Kriegserfahrungen von Soldaten unterschiedlicher Ethnien und Geschlechter konfrontiert, sondern auch in interaktiven Modulen selbst aufgefordert, sich individuell mit der Frage nach der Bedeutung des Militärs in der Gesellschaft auseinanderzusetzen sowie die gewählten Perspektiven der Ausstellungen kritisch zu hinterfragen.

Insgesamt kontextualisiert der Sammelband in interessanter Weise Museen als europäische Erinnerungsorte. Sie sind das Produkt ihrer individuellen Gründungsgeschichten vor einem jeweils unterschiedlichen nationalen Hintergrund, die sich in vergangenen und gegenwärtigen Ausstellungen spiegeln. Die Fallbeispiele zeigen, dass diese nicht einfach nur transnational, agonistisch, inklusiv oder multiperspektivisch sind: Vermeintlich transnationale Museen wie das Imperial War Museum lassen nur eine einzige vorerzählte Deutung zu. Dagegen zeigen Museen, wie das National Army Museum oder das Museo Nazionale del Risorgimento Italiano, die sich gewissermaßen allein der Geschichte der eigenen Nation verschreiben, welches Erkenntnispotential ein solcher Perspektivenwechsel mit sich bringt. Hier schließen Robert Trabas Überlegungen zur Entstehung einer europäischen Geschichtskultur an, die nur dann erreichbar oder zumindest denkbar scheint, wenn »die Polyphonie der nationalen Erinnerungskulturen anerkannt werd[e]« (S 132). Die europäischen Nationalmuseen stehen also inzwischen vor der Herausforderung, ihre eigene Nation als Teil der Geschichte der jeweils Anderen zu verstehen: Sie alle tragen so zur Ausbildung eines gemeinsamen Gedächtnisses bei.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Marius Müller, Rezension von/compte rendu de: Silvia Cavicchioli, Gabriele B. Clemens (a cura di/Hg.), Luoghi controversi della memoria – I musei nazionali europei/Kontroverse Erinnerungsorte – Europäische Nationalmuseen, Bologna (Società editrice il Mulino) 2020, 159 p., 15 ill. (Annali dell’Instituto Storico Italo-Germanico in Trento/Jahrbuch des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, 46,1), ISBN 978-88-15-28802-8, EUR 26,50., in: Francia-Recensio 2021/1, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.1.80301