Die Herausgeber Brian C. Brewer und David M. Whitford legen mit »Calvin and the Early Reformation« ein inhaltsreiches, 220 Seiten umfassendes Buch vor, das sich der Frage widmet, in welchem Verhältnis zur frühen Reformation in Europa der große Reformator Genfs, Johannes Calvin (1509–1564), stand. Anlass für die insgesamt elf Beiträge renommierter Calvin- und Calvinismus-Forscherinnen und -Forscher in dem Band war das große 500-jährige Reformationsjubiläum im Jahr 2017. Ein Großteil der Essays im Sammelband geht auf ein 2017 an der Baylor University gehaltenes Kolloquium der Calvin Studies Society zurück. Andere sind später hinzugekommen.

In Anbetracht der Tatsache, dass Johannes Calvin beim Thesenanschlag Martin Luthers in Wittenberg 1517 noch im Kindesalter war, lag es für die Calvin Studies Society auf der Hand, sich den frühen Einflüssen auf das Wirken des Reformators zu widmen. Waren die Debatten und Impulse der frühen reformatorischen Bewegungen von Bedeutung für Calvin und, wenn ja, welche Aspekte? Wo und wie kam er in Kontakt mit ihnen und welchen – unmittelbaren oder andauernden – Eindruck machten sie auf ihn?

Dass die Herausgeber auf eine klassische Einleitung und ein Fazit des Sammelbandes verzichten, ist wohlbegründet und lesefreundlich: Den Beiträgen wird durch die Eingangs- und Schlussaufsätze von David M. Whitford (»Calvin und die frühe Reformation«) und Barbara Pitkin (»Calvin über die frühe Reformation«) ein würdiger Rahmen gegeben. Spannend schildert David M. Whitford zu Anfang, in welcher Lebensphase sich Calvin befand, als die Wittenberger Reformation durch Luther ihren Anfang nahm. Vergleiche zu Luther werden gezogen, vor allem aber gelingt es Whitford, alle Beiträge des Bandes in aller Kürze vorzustellen und ihre Themen pointiert in die frühe Biografie Calvins zu verflechten. Barbara Pitkin schließt das Buch ab mit Hinweisen zu Calvins späten retrospektiven Äußerungen in Predigten aus den 1560er Jahren über seine eigenen Reformvorhaben und stellt demgegenüber frühe Quellennachweise zusammen, die auf Calvins Verhältnis zur Reformation hindeuten. So wird besonders deutlich, wie anfängliche Hoffnungen einer Umsetzung reformatorischer Anliegen, die sich mit Frankreich und dem französischen König Franz I. verbanden, enttäuscht wurden und sich Calvins reformatorisches Wirken dann auf Straßburg und schließlich Genf konzentrierte.

Zwischen diesen rahmenden Aufsätzen entfaltet sich ein breites Forschungspanorama. Bezüge zwischen reformatorischem Wirken und Humanismus, Calvins Ausbildung in Frankreich, seine Frontstellungen zum römischen Katholizismus und innerreformatorische Verortungen geben die groben Linien vor. Nach dem Eingangsbeitrag folgen drei Essays, die vor allem das frühe Verhältnis Calvins zum Humanismus thematisieren. Greta Grace Kroeker widmet sich den Bezügen Calvins zum Humanistenfürsten Erasmus von Rotterdam und zu einer »humanistischen Theologie«. Diese gehe nach Kroeker über einen Formalbegriff von Humanismus, der an die studia humanitatis anlehnt, hinaus. Vor allem die Orientierung an der Bibel, an der alten Kirche, den Kirchenvätern und der klassischen Rhetorik habe die humanistische Theologie ausgezeichnet (S. 18). Dabei darf allerdings die Frage gestellt werden, ob angesichts dieser recht allgemein gehaltenen Konturen humanistischer Theologie weitere Abgrenzungen möglich wären? Die eigentlichen Parallelen und Verbindungen zwischen Calvin und Erasmus, die sich in Basel wohl nie persönlich getroffen haben, werden jedenfalls zu wenig konkret.

Enger an den eigentlichen Kontexten des französischen Humanismus sind die beiden folgenden Beiträge orientiert: Die Kontroversen zwischen Humanismus und Scholastik in Paris als Hintergrund für Calvins intellektuellen Werdegang arbeitet James K. Farge gründlich heraus. Calvin war nach seiner Zeit am Collège de la Marche 1522 an das antihumanistisch geprägte Collège de Montaigu in Paris gewechselt, um sich dem Grundstudium zu widmen. Trotz aller anfänglichen Offenheit für die humanistische Reformbewegung in Paris wurde Häresie klar durch die Theologische Fakultät der Pariser Universität definiert und rigide durch das Parlament sanktioniert. Dass das Vorgehen gegen die Humanisten und »Lutheraner« im Laufe der 1530er Jahre in Paris immer feindseliger wurde, führt Farge auch auf das persönliche Erleben und die Messfrömmigkeit von König Franz I. von Frankreich zurück (S. 34).

Doch Calvins humanistischer Orientierung und seiner Hinwendung zu Luthers Gedanken tat dies keinen Abbruch. Die humanistischen Prägungen, die wohl am meisten in Calvins Werk fortwirkten, waren mit Calvins juristischem Studium in Orléans und Bourges, den Hochburgen der humanistischen Jurisprudenz Frankreichs, verbunden. Christoph Strohm gelingt es in beeindruckender Weise, auf knappem Raum die Anliegen humanistischer Jurisprudenz in der Behandlung des römischen Rechts darzustellen und sie sowohl in Calvins Biografie als auch in seiner Theologie zu verorten. Die philologisch-historische Klärung, die ethische Orientierung sowie die Systematisierung der Lehre, für die die humanistische Jurisprudenz stand, wurden prägend für Calvins Theologie.

Zu welchen Frontstellungen und Abgrenzungen es gegenüber der römisch-katholischen Seite, anderen Reformbewegungen und binnenreformatorischen Kreisen beim frühen (und auch späten) Calvin kam, zeichnet der Band im Weiteren nach. Das Scharnier zu den weiteren Essays bildet der umfassendste Beitrag im Buch von Jonathan A. Reid, der sich dem Verhältnis Calvins zur sogenannten Meaux-Gruppe widmet. Die nahe bei Paris gelegene kleine Stadt Meaux wurde unter dem Schutz Margarete von Navarras, der Schwester des französischen Königs Franz I., für Humanisten und Reformwillige, die der Anhängerschaft Luthers verdächtigt wurden, zu einem wichtigen Zufluchtsort. Obwohl Calvin selbst nicht nach Meaux floh, bestand doch ein reger Austausch und Kontakt zu Vertretern dieses Kreises. Reids Studie schließt mit einer detaillierten Chronologie und einem separaten Quellen- und Literaturverzeichnis, das äußerst hilfreich für kommende Forschungen in diesem Bereich sein dürfte.

Reformwillige (auch diejenigen aus der Meaux-Gruppe), die jedoch nicht mit der römisch-katholischen Seite brachen, bezeichnete Calvin in seinen Schriften und Briefen immer wieder polemisch als »Nikodemiten«. Dies war eine Anspielung auf Nikodemus, von dem im Johannesevangelium berichtet wird, dass er nachts zu Jesus ging und nicht öffentlich für seine Überzeugung einstehen wollte. Michael W. Bruening widmet sich den französischen »Nikodemiten«, bevor Brian C. Brewer in seinem Beitrag, ausgehend von Calvins Frühschrift »Psychopannychia« (1534) und der ersten Auflage der »Institutio« (Christianae religionis institutio, Basel 1536), minutiös auf das Verhältnis Calvins zu den Täufern eingeht. Brewer stellt fest, dass Calvin gegenüber dem französischen König und seinem Volk und in den eigenen Reihen primär das Ziel klarer Frontenbildung verfolgte. Paradoxerweise gewann Calvins Theologie dadurch Konturen, auch wenn Calvin bisweilen ein ausgewogenes Wissen darüber fehlte, wofür die Täufer eigentlich eintraten (S. 125, 130f., 148f.). Angesichts solcher Beobachtungen ist es zu begrüßen, dass im Fortgang des Bandes immer wieder auch eine Außenperspektive auf die frühe Reformation unter Calvin eingenommen wird.

Dies geschieht zum Beispiel in Carrie F. Klaus’ Untersuchung der »Kleinen Chronik« (»Petite chronique«) der Nonne Jeanne de Jussie über die Anfänge der Reformation in Genf und auch im Aufsatz von John L. Thompson. Auf Grundlage der Quellentexte Pierre Carolis arbeitet Thompson heraus, gegen welche Vorwürfe des Arianismus sich Calvin und Guillaume Farel rechtfertigen mussten. Zum »klassischen Fall« innerreformatorischer Kontroversen wechselt schließlich Amy Nelson Burnett am Ende des Bandes noch einmal, indem sie sich auf das Verhältnis Calvins zum ersten reformatorischen Abendmahlsstreit konzentriert und rekonstruiert, über welches Wissen Calvin in dieser Hinsicht überhaupt verfügen konnte.

Insgesamt ist Brewer und Whitford eine abwechslungsreiche Aufsatzsammlung über Calvin und die frühe Reformation gelungen, die auch mehr als drei Jahre nach dem Reformationsjubiläum sehr willkommen ist. Wünschenswert wäre noch eine größere Offenheit gegenüber der kontinentaleuropäischen und asiatischen Calvin-Forschung gewesen. Vor allem Calvin-Interessierten, Theologinnen und Theologen sowie Historikern und Historikerinnen wird das Buch aber Lesefreude bereiten und neue Erkenntnisse über das frühe reformatorische Profil des Genfer Reformators liefern.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Markus M. Totzeck, Rezension von/compte rendu de: Brian C. Brewer, David M. Whitford (ed.), Calvin and the Early Reformation, Leiden (Brill Academic Publishers) 2019, XIV–231 p. (Studies in Medieval and Reformation Traditions, 219), ISBN 978-90-04-35994-9, EUR 99,00. , in: Francia-Recensio 2021/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81538