In der modernen Kriegstheorie hat der Belagerungskrieg keinen guten Ruf. Clausewitz behauptete, selbst »der schwächste, unentschlossenste, faulste Feldherr, der sich niemals zu einer Schlacht entschlossen hätte, schreitet unbedenklich zur Belagerung«.1 Doch wird die Bedeutung des Stellungskriegs aktuell historiografisch neu entdeckt. So erweist sich die hier untersuchte Epoche der französischen Revolutions- und der Napoleonischen Kriege, üblicherweise als Beginn moderner Kriegführung betrachtet, als reich an entscheidenden Belagerungen.

Der Band vereint 15 Beiträge internationaler Expertinnen und Experten, die diese 2017 bei einem Kolloquium in Besançon präsentierten. Gerahmt werden die Aufsätze von einer kurzen thematisch-konzeptionellen Einleitung von Bernard Gainot sowie von Annie Crépins »Conclusion«, welche die Texte im Schnittfeld von Strategie und Geopolitik, politisch-juridischen Fragen, Sozial- und Kulturgeschichte sowie Erinnerungskultur zusammenfasst. Ausgehend von belagerten Städten behandeln die Texte militärische Operationen zwischen 1792 und 1814. Dabei decken sie ein weites räumliches wie thematisches Spektrum ab: Einzelne Orte, als spezifische Beispiele oder im Vergleich, aber auch ganze Regionen wie die Iberische Halbinsel, die Vendée oder die belgischen und rheinischen Departements werden betrachtet. Untersuchungen zur Operationsgeschichte und lokalen Kriegserfahrung regen zur Reflexion theoretischer Konzepte an (zum Beispiel »Ökonomie der Gewalt« oder »fiktiver« Belagerungs- bzw. Ausnahmezustand).

Die Beiträge sind auf vier thematische Sektionen verteilt, deren Abgrenzung allerdings nicht ganz klar wird. So spielt zum Beispiel Erinnerungskultur auch in einigen Beiträgen jenseits von Teil 4, wo sie ausdrücklich behandelt wird, eine Rolle.

Der erste Teil ordnet die belagerten Städte in den Kontext der jährlichen militärischen Kampagnen ein. Maxime Kaci betrachtet das Schicksal Nordfrankreichs zu Beginn des Ersten Koalitionskriegs (1792–1793) anhand dreier belagerter Städte. Er kontrastiert das erfolgreich verteidigte Lille mit dem eroberten Valenciennes und dem durch eine Entsatzarmee geretteten Dünkirchen. Hervé Drévillon beleuchtet anhand der Feldzüge 1794–1795 das problematische Verhältnis zwischen pragmatischer Kriegführung und republikanisch-radikaler Politik.

Mit quantifizierenden Methoden untersucht Jean-Marc Lafon, wie der für die Zivilbevölkerung belastende Belagerungskampf zentrale Erinnerungsorte in Spanien entstehen ließ: Dies mündete in eine »Memorialkonkurrenz« zwischen »Märtyrerstädten« (S. 51: »la concurrence mémorielle des villes martyres«), die sich in ihrer Opferbereitschaft zu übertreffen suchten. Eine konträre Dynamik konstatiert Annie Crépin für die siegreiche alliierte Kampagne von 1814: Nicht mangelnder Patriotismus, sondern schlechte Vorbereitung, ausbleibende Verstärkung und das Verlassen gefährdeter Orte durch imperiale Amtsträger veranlassten zahlreiche französische Städte, sich den österreichischen Invasionsarmeen kampflos zu ergeben.

Im zweiten Teil werden Belagerungsoperationen mit ihren Besonderheiten und Gemeinsamkeiten genauer betrachtet. Hervé Siou dekonstruiert am Beispiel von Saragossa den spanischen Nationalmythos des numantinismo, der den Iberen seit der römischen Expansion im 2. Jahrhundert v. Chr. eine besondere Fähigkeit zum Widerstand gegen fremde Eroberer zuschreibt. Während Saragossa zum Erinnerungsort erhoben wurde, verschwand das Schicksal von Badajoz, das 1811–1812 viermal belagert wurde, aus dem kollektiven Gedächtnis. Miguel Ángel Melón Jiménez beschreibt, wie die erste Kapitulation politisch als übereiltes Einknicken verurteilt wurde, aus dem sich keine Tradition ableiten ließ.

Giorgio Gremese betont die Ingenieursleistung des amphibischen Verteidigungssystems von Venedig, das 1809 und 1813/14 die Abwehr überlegener österreichischer Truppen erlaubte. Doch für die Bevölkerung der Stadt und ihres Umlands auf der Terraferma erwuchsen aus diesem Erfolg (insbesondere in den langen Wintermonaten der Blockade 1813/14) Leiden durch militärische Besetzung und gewaltsame Requisitionen von Lebensmitteln, Fuhrwerken und Zugtieren oder Brennstoff. Im kollektiven Gedächtnis wurden diese Erfahrungen im Zuge einer weiteren Belagerung 1848/49 aktualisiert und schließlich überdeckt. Gonzague Espinosa-Dassonneville legt dar, dass die zeitgenössische Propaganda ein irreführendes Bild der Einnahme von Capri 1808 zeichnete: Während Bilder und Texte die spektakuläre Ersteigung der Klippen als schnellen Erfolg betonten, stockte die Attacke vor der Inselhauptstadt und die Eroberung endete – zu Napoleons Missfallen – erst nach zwölftägiger Belagerung mit einer für die englische Besatzung günstigen Kapitulation.

Die Beiträge im dritten Teil entfalten das Spannungsfeld zwischen etablierten Kriegsnormen und Ausnahmezustand im Belagerungskrieg. Hugues Marquis zeigt anhand der Feldzüge 1792–1794, in denen sich die junge Französische Republik gegen die europäischen Monarchien behauptete, wie die hergebrachten Rituale militärischer Konflikte revolutionär ergänzt wurden: In der feierlichen Verweigerung der Übergabe belagerter Orte beanspruchten Stadtbürger politisch und praktisch die Ehren des Krieges.

Die Rolle der Bevölkerung unterstreicht auch Anne Rolland-Boulestreau für den Krieg um die Vendée (1793–1796). Diskursiv als Belagerungen identifiziert, stabilisierten Verteidigungen revolutionärer Städte und die Niederschlagung des ländlichen Aufstands durch die Blockade der gesamten Region die republikanische Identität im Bürgerkrieg. Demgegenüber fehlte, wie Antoine Renglet darstellt, ein klar identifizierter äußerer Feind im politisch gewendeten Belagerungszustand unter Napoleon. Am Beispiel von Mainz und Namur zeigt Renglet, wie das Militär vor allem die Kontrolle über Fremde beanspruchte, während die öffentlichen Polizeiaufgaben weitgehend in städtischer Hand blieben.

Thema des vierten Teils sind rhetorische und erinnerungspolitische Konstruktionen. Vincent Cuvilliers demonstriert, wie unterschiedliche Beteiligte die schnelle Einnahme Frankfurts durch preußisch-hessische Truppen (2.12.1792) durch ihre jeweils eigene Darstellung der Ereignisse zu rechtfertigen suchten. Die politische Ausdeutung einer Belagerungsoperation zeichnet Valeria Pansini anhand von Almeida (1810) nach. Während französische Propaganda die ausgebliebene englische Hilfe zum Beweis für Wellingtons Desinteresse am Wohl Portugals stilisierte, beschuldigten die Briten allein den portugiesischen Vizekommandanten der Festung, jedoch ohne die Desertion portugiesischer Miliztruppen zu thematisieren.

Bernard Gainot und Benjamin Deruelle untersuchen, wie die Bedeutung von Belagerungsoperationen in der Revolutionsära historiografisch verhandelt wurde. Die Geschichtsdarstellung verband die gewaltsamen italienischen Eroberungskriege des 15./16. Jahrhunderts mit Bonapartes Italienfeldzug. Danièle Pingués Beitrag betrachtet schließlich Belfort, das sich erst nach Napoleons Abdankung und einer Belagerung von 113 Tagen im April 1814 den Alliierten ergab. Die ernsten innerstädtischen Konflikte dieser Belagerung wurden vor allem 1870/71 durch den Mythos der Einigkeit in der Abwehr äußerer Feinde überblendet.

Insgesamt belegen die Beiträge des Bandes, dass die modernen Formen des Bewegungs- und Volkskriegs ohne ihre Verbindungen zur Kriegführung des Ancien Régime nicht zu verstehen sind. So überrascht es nicht, dass sich Lazare Carnot, eine der zentralen Figuren in der Organisation der revolutionären und napoleonischen Kriegführung, selbst als Schüler Vaubans betrachtete. Zudem zeichnet sich mit dem Blick auf konkrete Schauplätze, auf Erfahrungen und Erinnerungskultur(en) des Krieges in der moyenne durée eine neue Form der Militärgeschichte ab. Dass die Société des études robespierristes in ihrer Kolloquiumsreihe diesen Ansatz aufgreift, mag man somit als Zeichen für die fortschreitende Revolutionierung der Militärgeschichte sehen.

1 Carl von Clausewitz, Vom Kriege, 6. Buch, Kapitel 30 (= Hinterlassene Werke des Generals Carl von Clausewitz über Krieg und Kriegführung, Bd. 6, Berlin 1833, S. 423; Digitalisat z. B. Landesbibliothek Oberösterreich: https://resolver.obvsg.at/urn:nbn:at:at-ooelb-2382250).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Anke Fischer-Kattner, Rezension von/compte rendu de: Annie Crépin, Bernard Gainot, Maxime Kaci (dir.), Villes assiégées dans l’Europe révolutionnaire et impériale. Actes du colloque de Besançon, 3–4 mai 2017, Paris (Société des études robespierristes) 2020, 247 p., nombr. ill. en n/b et en coul., cartes, plans (Études révolutionnaires, 20), ISBN 978-2-908327-98-4, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81584