Die pinkasim, die Protokollbücher der jüdischen Gemeinden, gehören zu den wichtigsten Quellen für die jüdische Geschichte im frühneuzeitlichen Europa. Seit etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts ging man zumindest in größeren Gemeinden dazu über, weitreichendere Entscheidungen nicht nur schriftlich zu fixieren, sondern die Protokolle zur leichteren Auffindbarkeit auch in Bücher einzutragen. Hier finden sich beispielsweise zumeist die Gemeindestatuten, von denen der Herausgeber Stefan Litt bereits 2014 in einem Band derselben Reihe eine Auswahl aus nicht edierten pinkasim veröffentlicht hat.
In dem soeben erschienenen Band wendet er sich nun auf dieselbe Weise einem weiteren wichtigen Thema zu – der Fürsprache (shtadlanut). In vielen jüdischen Gemeinden war es üblich, zu Verhandlungen mit den jeweiligen Obrigkeiten Fürsprecher zu ernennen. Dies konnte aus einer konkreten Situation heraus erfolgen, aber auch die Form einer mehr oder weniger festen Einrichtung annehmen. So entsandte etwa die bedeutende Gemeinde der Reichsstadt Frankfurt am Main viele Jahre hindurch Vertreter an den kaiserlichen Hof in Wien, die dort über einen längeren Zeitraum hinweg in ganz unterschiedlichen Anliegen ihre Interessen vertraten. Solche Missionen waren einerseits ehrenvoll, andererseits aber oft mit erheblichem Aufwand verbunden, weshalb Mittel und Wege gefunden werden mussten, um die Belastung einigermaßen gerecht auf mehrere Schultern zu verteilen.
Da in den Protokollbüchern in der Regel allenfalls der Prozess der Wahl bzw. Ernennung der Fürsprecher, ihre Entsendung oder die Entbindung von ihrer Aufgabe verzeichnet sind, hat sich der Herausgeber zurecht entschieden, den Begriff »Fürsprache« hier weiter zu fassen, und zwar als generelle politische Interessenvertretung (s. Einleitung, S. 7). Das eröffnet die Möglichkeit, auch das Agieren weiterer Gemeindevertreter wie etwa der regulären Vorsteher einzubeziehen, die im Interesse ihrer Gemeinden – oder auch anderer Juden – handelten und so Einblicke in viele Bereiche jüdischen Lebens oder ihrer Beziehungen zu den christlichen Obrigkeiten geben.
Den Anfang des Bandes bildet eine Einleitung, in der detaillierte Informationen über Charakter, Überlieferung, Sprache und Inhalt der Protokollbücher sowie über die Institution der shtadlanut im frühneuzeitlichen Aschkenas vermittelt werden. Der Hauptteil besteht aus 13 Kapiteln in alphabetischer Reihenfolge der behandelten Gemeinden (Altona-Zülz), die jeweils durch eine Einführung in die Geschichte der Gemeinde eröffnet werden und im Anschluss Auszüge aus ihren Protokollbüchern in hebräischer bzw. jiddischer Sprache mit deutscher Übersetzung enthalten. Am Ende finden sich – neben einer Bibliografie – zur Erschließung der Quellensammlung sehr hilfreiche Personen-, Orts- und Sachregister.
Die insgesamt 107 edierten Texte umfassen den Zeitraum von 1586 bis 1808, wobei der deutliche Schwerpunkt auf dem 18. Jahrhundert liegt, einer Zeit, in der die Einträge eine große thematische Vielfalt und oft auch stark narrative Züge aufweisen. Die Zahl der Texte zu den einzelnen Gemeinden ist sehr unterschiedlich, da in großen Gemeinden wie Amsterdam, Frankfurt oder (im 18. Jahrhundert) auch Fürth erheblich mehr Entscheidungen anfielen, doch berücksichtigt Litt daneben auch kleinere Stadt- und Landgemeinden wie Offenbach oder Mattersdorf im Burgenland, in denen die Probleme häufig völlig anders geartet waren und somit auch andere Strategien zu ihrer Lösung erforderten.
Besonders spektakulär sind zweifellos die ungewöhnlich ausführlichen Einträge in den Protokollbüchern der aschkenasischen Gemeinde Amsterdam, in denen historische Ereignisse und Abläufe zum Teil mit großer Anschaulichkeit geschildert werden. Dazu zählen etwa die Besuche des Statthalterpaares, des dänischen Königs Christian VII. sowie des preußischen Prinzen Heinrich in der Hauptsynagoge der Gemeinde, die alle im selben Jahr 1768 erfolgten. Eingehend werden die Ausschmückung der Synagoge zu Ehren der Gäste sowie ihr Empfang beschrieben (Dok. 18, 20–23). Neben festlichen Ereignissen wie diesen hohen Besuchen, Huldigungen, Audienzen und Gebeten für die Obrigkeit kommen aber auch andere Themen zur Sprache, z. B. die Wahl und Entsendung von Fürsprechern an den Amsterdamer Rat und den Hof in Den Haag 1744, um diese zu bewegen, sich bei Kaiserin Maria Theresia zugunsten der von Ausweisung bedrohten böhmischen Juden einzusetzen (Dok. 12). Auch die Gefahr, die die Amsterdamer Juden 1787 liefen, in der sogenannten Patriotischen Revolution zwischen die Fronten zu geraten, sowie die gegen diese Gefahr ergriffenen Mittel werden eingehend dargestellt (Dok. 24–26).
Solche politischen Ereignisse kommen natürlich auch in anderen pinkasim zur Sprache, allerdings meist in erheblich kürzerer Form. Darüber hinaus werden weitere Themenkreise berührt wie die Besteuerung oder Sonderabgaben der Gemeinden etwa zum Unterhalt der örtlichen Garnison (Fürth, Dok. 51, 53–57), die Konditionen bestimmter Berufsgruppen (Ärzte, Metzger, Schneider, Dienstboten) sowie die Behandlung von fremden Juden und speziell von Bettlern. Mit zunehmender Nähe zur Gegenwart kommen neue, teilweise durchaus aktuell anmutende Themen hinzu, etwa die Durchsetzung der Pockenimpfung (Den Haag, Dok. 38) oder der Umgang mit verleumderischen Presseartikeln (Fürth, Dok. 74).
Über die Auswahl der Quellen bzw. den zeitlichen Schwerpunkt der vorliegenden Auszüge mag man im Einzelfall streiten. Insgesamt ergeben sie jedenfalls ein eindrucksvolles Bild der vielfältigen Beziehungen zwischen jüdischen Gemeinden und christlichen Obrigkeiten, der internen Konfliktlinien und Entscheidungsprozesse sowie vor allem der Handlungsmöglichkeiten, die jüdische Diplomaten – seien es eigens ernannte Fürsprecher oder reguläre Gemeindevertreter – besaßen und von denen sie häufig mit Erfolg Gebrauch machten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Wolfgang Treue, Rezension von/compte rendu de: Stefan Litt (Hg.), Jüdische Fürsprache. Quellen aus Gemeindeprotokollbüchern (pinkasim) des aschkenasischen Kulturraums 1586–1808, Göttingen (V&R) 2021, 417 S., 5 Abb. (Archiv jüdischer Geschichte und Kultur/Archive of Jewish History and Culture, 5), ISBN 978-3-525-31126-4, EUR 120,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81588