Mit ihrer Edition der Werke »Carmen de musca Chilianea« und »Carmen de puella« (beide 1507), die aus der Feder des Thüringer Celtis-Schülers und poeta laureatus Georg Sibutus (ca. 1486–1528) stammen, betreten die Herausgeberin Christina Mecklenborg und der Herausgeber Bernd Schneider editorisches Neuland, denn hierbei handelt es sich um die erste moderne textkritische Ausgabe eines Sibutus-Werkes. Diese gesicherte Textgrundlage soll weiterführenden literatur- oder kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zwei Gedichte zugänglich machen, die nicht nur in der bisherigen Forschung unterrepräsentiert sind; vielmehr haben sich Herausgeberin und Herausgeber zum Ziel gesetzt, zahlreiche Missverständnisse aufzuklären, die sich im Zusammenhang mit diesen kaum bekannten Werken des Sibutus bis in die heutige Zeit immer weiter fortgesetzt haben.
Damit verbunden ist ihr Anliegen, noch vor der Kontextualisierung der zwei Gedichte fehlerhafte Informationen über Leben und Werk des frühneuzeitlichen Dichters richtigzustellen. Aus diesem Grund widmen sie der Vita des Sibutus ein umfangreiches Kapitel, in dem sie die verschiedenen Stationen seines Werdegangs ausführlich und unter Berücksichtigung zahlreicher zeitgenössischer Quellen sowie Selbstaussagen des Poeten beleuchten. So argumentieren sie mit Isak Collijn gegen die in der Forschung noch immer prominente Annahme, Sibutus’ erstes Werk sei bereits 1497 in Lübeck erschienen (S. 14–16). Dabei verweisen sie plausibel auf die Umstände, dass zum einen der im Impressum genannte Drucker Georg Richolff zu dieser Zeit noch gar nicht tätig war und dass zum anderen die für den Druck verwendeten Typen offensichtlich einem späteren Zeitpunkt (nämlich 1507) zuzuordnen sind.
Allerdings ist anzumerken, dass ihre Beurteilungen, die die Überzeugungskraft von Sibutus’ Autopsieangaben betreffen, nicht immer konsequent ausfallen (S. 27–32): Einerseits betrachten sie eine Aussage des Dichters, derzufolge er als Augenzeuge genaue Kenntnisse über einen Vorfall in Nürnberg erlangt haben will, nicht allein als klaren Beweis dafür, dass Sibutus sich tatsächlich vor Ort in Nürnberg aufgehalten hatte, und bieten alternative Informationsquellen für diese Kenntnisse an. Andererseits genügt es ihnen bei der Frage, ob der Dichter trotz einiger widriger Umstände tatsächlich eine Frieslandreise unternommen habe, vollkommen, dass dieser einige friesische Städtenamen aufzählt und behauptet, diese selbst gesehen zu haben. Was Sibutus’ späteres Exil in Böhmen betrifft, das wohl unter anderem auf seinen Hang zur Altgläubigkeit im nunmehr lutherischen Wittenberg zurückzuführen ist, vermeiden die Herausgeberin und der Herausgeber einen allzu großen Exkurs zu den Umständen der Reformation. Dies kommt der Stringenz ihrer Darstellung sehr zugute. Insgesamt überzeugt die ausführliche chronologische und quellengestützte Wiedergabe des Lebenslaufes, die sich trotz der zahlreichen direkt in den Text eingebundenen Zitate flüssig und angenehm lesen lässt.
Die Verortung des »Carmen de musca Chilianea« im Kontext der Trompe-l‘Œil-Malerei ist besonders aufgrund ihres großen Potenzials zur interdisziplinären Anknüpfung lobend hervorzuheben. Dem Editor und der Editorin gelingt es, anhand dieses konkreten Beispiels die enge Beziehung von Malerei und Dichtung sichtbar zu machen, indem sie erstens zeigen, dass Sibutus diese Maltechnik beispielsweise durch die Werke des zeitgleich am kursächsischen Hof tätigen Lucas Cranach d. Ä. bestens bekannt war. Zweitens vertreten sie die Ansicht, dass der Dichter nicht nur inhaltliche Details zeitgenössischer Gemälde in das Medium der Poesie übertrug, sondern hinsichtlich der Produktionsdauer sogar in einen »Wettstreit« mit dem Künstler Albrecht Dürer trat, womit sich wiederum einige inhaltliche Ungenauigkeiten im »Carmen de musca Chilianea« erklären lassen. Dass Sibutus von Dürers in Venedig gemalten »Rosenkranzfest« und der darauf abgebildeten lebensechten Fliege durch zwei seiner Kollegen an der Wittenberger Universität – nämlich Christoph Scheurl und Richard Sbrulius – erfahren haben könnte, verdeutlichen die Herausgeberin und der Herausgeber plausibel anhand schriftlicher, und chronologisch passender Äußerungen dieser Kollegen über ihre Begegnungen mit Dürer in Italien.
Ebenso stringent und überzeugend erfolgt die Einordnung des »Carmen de Puella« in die erotische Dichtung, die in Sibutus’ Kollegenkreis an der Wittenberger Universität zwischen den Jahren 1507 und 1509 sehr populär war. Die Editorin und der Editor ordnen Beginn dieser Dichtung dem Dienstantritt des italienischen Humanisten Sbrulius zu, da die Behandlung erotischer Themen teils obszöner Ausprägung – Vorbilder waren Catull und Martial – in Italien bereits Eingang in die neulateinische Poesie gefunden hatten. Sie belegen die Popularität dieser Dichtung im Umkreis des Sibutus, indem immer wieder aussagekräftige Textbeispiele verschiedener Verfasser herangezogen werden, die sich gesammelt in einer Handschrift erhalten haben und hauptsächlich um die Geliebte des Wittenberger Medizinprofessors Dietrich Bloch kreisen. Das rasche Ende der erotischen Dichtung steht nach Ansicht der Herausgeberin und des Herausgebers in Zusammenhang mit der Intervention des kursächsischen Hofes, der sie wohl aus religiösen Gründen ablehnte und vermutlich auch an Sibutus’ »Carmen de puella« gehörigen Anstoß nahm.
Für ihre Edition der beiden genannten Gedichte beschränken sich die Herausgeberin und der Herausgeber auf eine Druckausgabe von 1507 als Textgrundlage. Ob weitere Exemplare existieren, wird nicht thematisiert. Die an Edition und Übersetzung angeschlossenen Kommentare bieten grundsätzlich überzeugende Erklärungen oder plausible Lösungsvorschläge für schwerer verständliche Passagen. So decken die Editorin und der Editor besonders im »Carmen de musca Chilianea« immer wieder inhaltliche Ungenauigkeiten oder gar Missverständnisse antiker Literatur auf, die Sibutus vermutlich wegen der schnellen Ausführung seiner Arbeit unterliefen.
Einige wenige Kommentierungen lassen allerdings auch Widerspruch zu: So ist beispielsweise fraglich, dass der Leser oder die Leserin wirklich nicht im Geringsten (S. 139) ahnen könne, in welche Richtung sich der Inhalt fortsetzen würde, wenn Sibutus’ Freund Kilian Reuter sich selbst mit drei bedeutenden bildenden Künstlern der griechischen Antike gleichsetzte. Gleichermaßen ist es durchaus möglich, die inhaltlich äquivalenten Verse 60 und 67 als Rahmen der dazwischen aufgezählten Adynata aufzufassen, anstatt diese Äquivalenz schlicht poetischer Unachtsamkeit zuzuweisen (S. 149).
Zusammenfassend bietet die Edition der beiden Sibutus-Werke die Korrektur teils langlebiger Missverständnisse rund um den poeta laureatus. Sie liefert eine gelungene Verortung in den kulturhistorischen Kontext des vorreformatorischen Wittenbergs sowie eine gesicherte und sorgfältig kommentierte Textgrundlage, auf der zukünftige Untersuchungen aufbauen können.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Mareike Angres, Rezension von/compte rendu de: Christina Meckelnborg, Bernd Schneider (Hg.), Georg Sibutus: Carmen de musca Chilianea und Carmen de puella. Iocosa und Erotica aus dem vorreformatorischen Wittenberg (1507), Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2021, 256 S., 8 farb., 2 s/w Abb., ISBN 978-3-412-52022-9, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81589