Im Herbst 1653 warnte der kurbrandenburgische Gesandte in Brüssel seinen Herrn, Kurfürst Friedrich Wilhelm, vor einer Allianz mit Herzog Karl IV. von Lothringen (1604–1675): »une personne si dangereuse comme ce Ducq, […] qui ne cherche que son prouffit aux depens d’autruy«1. Der Kurfürst meinte daraufhin: lieber keine Allianz als eine mit Herzog Karl! Diese dezidierte Haltung zeigt, dass der Herzog Karl IV. schon zu Lebzeiten polarisierte und klare Positionierungen provozierte. Diese Eigenart scheint sich auch in der vorliegenden Biografie des Herzogs aus der Feder des lothringischen Historikers Jean-François Thull zu erhalten, wenn auch Thulls Bewertung der Person kaum gegenteiliger ausfallen könnte.
Thull legt eine knapp 170 Seiten umfassende populärgeschichtliche Biografie des Herzogs vor, der während seiner langjährigen Herrschaft zwischen den Machtinteressen der französischen und habsburgischen Herrscher manövrierte und in dieser Rolle schon lange das wissenschaftliche Interesse der Frühneuzeit-Forschung auf sich gezogen hat. Sein Herzogtum, das er Zeit seines Lebens als souveräner Fürst zu lenken versuchte, war eine »hochsensible strategische Zone«2, die das Sicherheitsbedürfnis der französischen Könige gegenüber Habsburg prägte und die Versorgungs- und Mobilitätsgewährleistung zwischen den habsburgischen Besitzungen in Europa bedingte. Die wechselvolle Biografie des Herzogs zwischen militärischem Erfolg, diplomatischer Niederlage, Exil, Gefangenschaft und Restitution hat daher ihren berechtigten Platz in der europäischen Geschichtsschreibung des Dreißigjährigen Kriegs und des ludovizianischen Zeitalters.
Diesen Platz will Thull mit seiner ereignisgeschichtlich geführten Darstellung bekräftigen und durch sein Narrativ des lothringischen Herzogs als »duc insoumis« ergänzen: Die Biografie des Lothringer Fürsten sieht der Autor durch eine frankozentrische Siegergeschichte dominiert, die den Herzog hinter die negativen Vorzeichen eines Rebellen wider die im 17. Jahrhundert fortschreitende Machtübernahme der Bourbonen in Lothringen stellt. Thull hingegen nennt Karl IV. den »duc insoumis«, der sich auch als Exilfürst gegen Ludwig XIII. und Ludwig XIV. zu behaupten versuchte.
In diesem Sinne geht der Autor in sechs Kapiteln chronologisch vor und beschreibt den Anteil Karls IV. am europäischen mächtepolitischen Wirkungsgefüge. Herausgekommen ist eine Geschichte von Gut und Böse: Der »paladin infortuné de l’indépendance lorraine« steht gegen die bedrohlichen »forces hostiles« (S. 171), der »unbeugsame Herzog« gegen ein häufig apersonal auftretendes, in zentralistischem Determinismus verharrendes Frankreich der Kardinäle. Als häufig referenzierte »puissance occupante« bleibt Frankreich, dessen Machtpolitik ohne Zweifel auf Kosten lothringischer Eigenständigkeit ging, in der Biografie Hauptgegner des Herzogs, der die Anbindung an die Habsburger in Brüssel und Wien suchte. Zwar erscheint es angebracht, wie Thull auch nach lothringischen Perspektiven und Alternativen zu fragen. Doch wird dieses Vorhaben durch die beharrliche, fast ausschließliche Auseinandersetzung mit der französischen Bedrohung konterkariert. Bei aller Beschäftigung mit dem französischen Eroberungswillen verschwindet die zweite Seite der Medaille, die Karl IV. neu präsentieren soll: sein Anbindungsstreben an Spanien, Reich und Kaiser. Diese Mächte werden in die Schilderung der militärischen Aktivitäten des Herzogs durchaus einbezogen, aber meist nur dann, wenn sich – wie im Dreißigjährigen Krieg oder im Holländischen Krieg der Fall – das militärische Engagement gegen Frankreich richtete. Andere Konfliktfelder, darunter Karls Einmischungen in reichsinterne Konflikte wie den Normaljahrskrieg 1651 auf Seiten des katholischen Herzogs von Pfalz-Neuburg gegen Kurbrandenburg bleiben hingegen unerwähnt.
Diese Perspektivierung der Biografie fällt besonders auf, da der Autor sich explizit von der »histoire académique et institutionelle« distanziert (S. 17). Diese attackiert er als »faux-semblants« und bezeichnet diese als »autopromotion«, die im Sinne einer Siegergeschichte nur die französische Version einer lothringischen Eingliederungsgeschichte ins zentralisierte Frankreich fortschreibe. Weniger polemisch ließen sich diese Anmerkungen angesichts der kaum vorhandenen Infrastruktur französischer Landesgeschichte begründbar einbauen, zumal Thull – wenn auch erst am Ende der Darstellung – einen Überblick über das historiografische Nachleben des Herzogs gibt (S. 164–169). In dieser Form erschweren sie aber die Nachvollziehbarkeit der geschichtswissenschaftlichen Zielsetzung des Autors. Zur einleitenden Polemik konsequent verhält sich dann der Umgang mit Belegen: Das Literaturverzeichnis weist zwar mehrere neuere (deutsche und französische) Forschungsarbeiten auf; diese werden im Werk selbst aber nur angeführt, um darin zitierte Quellenpassagen wiederzugeben. Die eigene Beweisführung unternimmt der Autor häufig an lothringischen Geschichtstraditionen des 18. und 19. Jahrhunderts.
So scheint der Verweis auf den »duc insoumis« am Ende mehr Werturteil als Sachurteil zu sein, wenn auch die lothringische Perspektivierung, die den souveränen Anspruch des Herzogs und sein Ringen darum zum Ausgangspunkt eines biografischen Narrativs macht, als hehres Ziel erscheint.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jonas Bechtold, Rezension von/compte rendu de: Jean-François Thull, Charles IV de Lorraine (1604–1675). Le duc insoumis. Préface de Joseph Poth, Fouesnant (Yoran Embanner) 2020, 190 p., nombr. ill. en n/b, ISBN 978-2-36747-077-1, EUR 15,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81606