Die vorliegende dreibändige Publikation, aus einer großen internationalen Konferenz hervorgegangen, ist ein ganz untypischer ›Tagungsband‹. Statt die viel zu vielen (und vermutlich auch sehr heterogenen) Vorträge über frühneuzeitliche prophetische Literatur zu veröffentlichen, haben sich Ariel Hessayon und Lionel Laborie dafür entschieden, eine für Forschung und Lehre hilfreiche Edition vorzulegen. Die Herausgeber und ihre Mitarbeitenden haben für den mitteleuropäischen Raum (Band 1), den Mittelmeerraum (Band 2) und die britischen Inseln (Band 3) relativ wenige Quellentexte ausgewählt, die ausführlich, meist vollständig, abgedruckt werden. In vielen Fällen handelt es sich um Quellen, die nur handschriftlich vorliegen, in einigen Fällen sind es auch Übersetzungen etwa deutscher oder lateinischer Drucke ins Englische. In jedem Fall werden mit den Bänden relativ schwer erreichbare Quellentexte einem akademischen Publikum zugänglich gemacht. Das Spektrum reicht dabei von hussitischen eschatologischen Texten aus dem 15. Jahrhundert und pietistischen Autoren wie Friedrich Breckling über den portugiesischen Sebastianismus um 1600 und griechische antiosmanische Prophetien aus dem 18. Jahrhundert bis hin zu Jane Lead und der Philadelphian Society und den »French Prophets« im England des 18. Jahrhunderts. Den Quellen sind jeweils kürzere Einordnungen in ihre spezifischen Kontexte vorangestellt, und alle drei Bände beginnen mit längeren allgemeinen Einleitungen, die die Quellen des jeweiligen Bandes noch einmal in einem Gesamtzusammenhang verorten. So beginnt Band 1 mit einer sehr lesenswerten »Introduction: Reformations, Prophecy and Eschatology« (Andreas Pečar und Damien Tricoire), Band 2 mit »Mediterranean Apocalypticism: An Introduction« (Mayte Green-Mercado) und Band 3 mit einem instruktiven Überblick über »Millenarianism and Prophecy in Eighteenth-Century Britain« (William Gibson).
Die Quellen sind alle ausgesprochen faszinierend; nicht alle Quellen werden aber sämtliche Benutzerinnen und Benutzer gleichermaßen interessieren. Die Zusammenstellung, die die drei Bände bieten, belegt vor allem die Vielfältigkeit und Multikontextualität des Phänomens frühneuzeitlicher Prophetie. In der Zusammenschau ergibt sich ein Bild des prophetischen Denkens, Sprechens und Schreibens als integrales Element der frühneuzeitlichen Kultur: Prophetie war eng mit vor allem historiografischer Gelehrsamkeit verflochten, verfolgte vielfältige und hochgradig kontextabhängige politische Intentionen, war aber auch – unabhängig von ihrer Intention – politisch funktionalisierbar. Deutlich wird, dass Prophetie nicht nur ein überkonfessionelles Phänomen war, sondern dass es auch strukturelle Analogien, inhaltliche Übereinstimmungen, Beeinflussungen und Vernetzungen zwischen protestantischen und katholischen Autoren gab. Deutlich wird auch, wie stark prophetisches Sprechen einerseits innerkirchlich verankert war, andererseits aber am Rand der etablierten Kirchen auch Möglichkeiten bot, heterodoxe Positionen zu formulieren und Gruppenbildung zu betreiben, und zwar auch für Akteure mit problematischen Sprecherrollen (etwa Frauen). Deutlich wird schließlich die europaweite Verbreitung des Phänomens während der gesamten Frühen Neuzeit – wenn auch immer wieder Konjunkturen und geografische Schwerpunkte auszumachen sind.
Insgesamt handelt es sich also um eine sehr verdienstvolle Edition, die ein Thema mit äußerst vielen Anschlussstellen an andere Themenbereiche der frühneuzeitlichen Geschichte und Kultur für ein englischsprachiges Publikum prominent erschließt. Gleichzeitig leidet das Werk aber darunter, dass es im Hinblick auf seine Konzeption wie auf seine zentralen Begriffe viel zu unscharf bleibt. Die Auswahl der Quellen etwa erscheint mir, wenn nicht willkürlich, dann doch zumindest begründungsbedürftiger als dies hier geschieht.
Warum, wenn es um Prophetie im Protestantismus Mitteleuropas geht, weder das Phänomen der lutherischen Laienpropheten quellenmäßig vertreten ist noch die (quantitativ noch deutlich wichtiger) lutherische Apokalyptik des konfessionellen Zeitalters oder die reformierten Prophetien des 17. Jahrhunderts, ist inhaltlich kaum nachvollziehbar. Es mag sein, dass die betreffenden Texte besser bekannt oder leichter zugänglich sind – aber von der Sache her ergibt sich öfter der Eindruck, dass es den Herausgebern vor allem um ›heterodoxe‹ Positionen außerhalb der etablierten Kirchen geht. Dies hat im Hinblick auf bestimmte Konzeptionen von Prophetie seinen Sinn (denn die Konfessionskirchen taten sich oft schwer mit Prophetie). Wenn man allerdings zum Beispiel Apokalyptik generell unter den Begriff der Prophetie subsumieren möchte, wie dies hier zum Teil geschieht, ist der Ausschluss bestimmter protestantischer Phänomene kaum verständlich.
Dies wiederum hängt an den Unschärfen der zentralen Begriffe: Im Grunde werden in der Gesamtanlage des Bandes, wenn auch nicht in den Quelleneinführungen, die theologisch wie historisch ausgesprochen komplexen Begriffe der Prophetie, der Eschatologie, der Apokalyptik, des »millenarism« (also: des Chiliasmus) in eins gesetzt; in der Nähe dieser Begriffe finden sich dann weitere wie Mystik oder Quietismus. Sind aber, theologisch wie sozialhistorisch, diese Phänomene identisch, ähnlich, benachbart oder doch klar unterscheidbar? Dazu erfährt man zu wenig. Diese Begriffsunschärfe hat ihren Grund darin, dass die Phänomene in der Tat oft ineinander übergehen – doch umso wichtiger wäre der Versuch einer klaren Begriffsverwendung, um genau diese Übergänge in der Praxis überhaupt sichtbar zu machen. Für eine klarere Begriffsbestimmung und auch eine bessere Begründung der Quellenauswahl wäre es aber nötig gewesen, dem dreibändigen Werk noch einmal eine längere, konzeptionell angelegte Gesamteinleitung voranzustellen, die leider fehlt.
All dies schmälert weder den Wert der edierten Quellen noch die Forschungseinblicke in vielfältige europäische Länder und Zeiten, die man in den Quelleneinführungstexten findet. Aber angesichts des Versuchs eines Gesamtüberblicks sind dies doch relativ schwerwiegende Kritikpunkte. Der Nutzen der Bände liegt also ganz überwiegend darin, bestimmte schwer greifbare Quellen zu präsentieren, nicht so sehr darin, ein großes und komplexes Forschungsfeld überzeugend zu kartieren.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Matthias Pohlig, Rezension von/compte rendu de: Lionel Laborie, Ariel Hessayon (ed.), Early Modern Prophecies in Transnational, National and Regional Contexts (3 vols.), Leiden (Brill Academic Publishers) 2021, vol. 1: X–269 p.; vol. 2: X–305 p.; vol. 3: VIII‑289 p. (Brill’s Texts and Sources in Intellectual History, 324/23), ISBN 978-90-04-44363-1, EUR 249,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81691