Danielle Buschinger stellt sich der Herausforderung, eine Gesamtschau der deutschsprachigen Heldenepik zu bieten, wobei sie über sprachliche und kulturelle Grenzen hinausgeht und ihre Untersuchung in europäische Kontexte einordnet.

Zu Beginn geht sie der Frage nach, welche Kriterien die deutschsprachige Heldenepik ausmachen, und schlüsselt die genretypischen Merkmale in Abgrenzung zu anderen Textsorten auf (S. 10f.). In den folgenden acht Kapiteln bietet Buschinger einen Überblick über das Thema, wobei ihre Untersuchung vom »Nibelungenlied« über die »Dietrichepik« bis hin zur spätmittelalterlichen »Chanson de geste«-Rezeption reicht und gleichfalls Mischformen des Genres berücksichtigt. Auch der künstlerischen sowie forschungsgeschichtlichen Rezeption der Texte bis in die Moderne gibt der Band Raum. Ein übersichtliches Verzeichnis der Personen und Werke beschließt die Studie, ein Instrumentarium, das genauso wie die häufigen Auflistungen der zentralen Argumente jedes Kapitels den Band als Nachschlagewerk sowie für den akademischen Unterricht nutzbar macht.

Während jedes Kapitel mit grundlegenden Überlegungen einsetzt und den Gegenstand für Neulinge auf dem Gebiet zugänglich macht, wendet sich der Band bereits durch die Verwendung des Französischen in erster Linie an ein Publikum mit Kenntnissen im Bereich der französischsprachigen Literatur, insbesondere der »Chansons de geste«. Schließlich konzentrieren sich die komparatistischen Analysen besonders auf den französisch-deutschen Kulturtransfer, indem bekannte Motive der »Chansons de geste« mit denen der deutschen Heldenepik verglichen werden. Schon im ersten Kapitel untersucht Buschinger auch das »Nibelungenlied« aus dieser Perspektive (S. 57–60), wobei sie die zentralen Motive wie den Tod Siegfrieds oder das Gewissen Rüdigers als Anleihen aus der französischsprachigen Literatur versteht (S. 60).

Insgesamt geht das erste Kapitel von der These der Existenz eines »Ur-Nibelungenlieds« aus und betrachtet die Genese des Stoffes, die Überlieferungslage sowie den Zusammenhang von »Nibelungenklage«, »Burgonderlied« und dem »Lied vom Hürnen Seyfrid« aus diesem Blickwinkel. Die Untersuchungen sind dabei stark auf die älteren Thesen aus der Schule Ernest Tonnelats1 und Jean Fourquets2 ausgerichtet. Andere Perspektiven oder Forschungsfragen wären an dieser Stelle bereichernd gewesen, so zum Beispiel die in der Forschung diskutierte Müller-Heinzle-Kontroverse3 oder auch aktuellerer Beiträge etwa von Harald Haferland4.

Im zweiten Kapitel wird der erweiterte Stoffkreis des »Nibelungenlieds« betrachtet; besonders hervorzuheben ist hier die Berücksichtigung des jiddisch-deutschen Texts »Dukus Horant«, der die weit ausgreifende Gesamtanlage des Bandes noch einmal verdeutlicht.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der »historischen« und »aventiurehaften Dietrichepik« und nimmt auch den erweiterten Stoffkreis anhand einzelner Beispieltexte auf. Buschinger verdichtet hier ihre Hauptthese einer Abhängigkeit der deutschen von der französischen Literatur, wobei sie auch ähnliche Überlegungen von Hermann Schneider5 oder Walter Samen6 erwähnt. Der Exkurs zur Brautwerbungsdichtung anhand von »Ornit« und »Wolfdietrich« verweist bereits auf die Existenz von Mischformen des Genres – ein Untersuchungsgegenstand, der besonders in Kapitel fünf und sechs näher ausgeführt wird.

Auf der Grundlage der These, dass die Adaptation französischer Heldenepik im deutschen Spätmittelalter auf politische Ziele ausgerichtet gewesen sei (S. 164), greift das fünfte Kapitel nach einer Einleitung zur Adaptation der klassischen Heldenepik ebenfalls deutsche Prosabearbeitungen auf. Wie in den vorangegangenen Kapiteln wird hier ebenfalls ein Überblick zu Inhalt und Überlieferungstradition der entsprechenden Werke gegeben. Auch Schlaglichter der Forschung werden in den Kurzanalysen aufgegriffen. Bei den Texten, die Buschinger Elisabeth von Nassau-Saarbrücken zuordnet, hätten durchaus die kommentierten Neueditionen7 erwähnt werden können sowie Forschungsbeiträge, die die Autorinnenrolle Elisabeths grundsätzlich in Frage stellen8.

Mit dem sechsten Kapitel wird das Panorama des Genres mit Texten wie »Herzog Ernst« oder »Orendel« abgeschlossen, die Buschinger jeweils treffend als ouvrage mixte (S. 210) bezeichnet, da sie sich an unterschiedlichen Motiven profaner und religiöser Literatur bedienen und Heldenepos, Kreuzzugsepos, Brautwerbungsliteratur und Heiligenlegende miteinander kombinieren (S. 213).

Kapitel sieben und acht widmen sich abschließend der modernen Rezeption in Kunst, Literatur und Forschung. Gelungen ist der Rückblick auf die frühe Forschungsgeschichte und damit auf den Beginn des Fachs Germanistik, der mit der Erwähnung Jakob Bodmers, Johann Christoph Gottscheds, der Brüder Grimm und Schlegel ausführlich behandelt wird. Als Beispiel für die künstlerische Rezeption greift Buschinger die Opern Richard Wagners heraus und bezieht seine Skizzen zu buddhistisch geprägten Umarbeitungen des Stoffes ein (S. 250–253). Auch der nationalsozialistische Missbrauch des »Nibelungenlieds« zu Propagandazwecken wird besprochen (S. 259–262).

Insgesamt gelingt Buschinger mit ihrem Band ein Überblick über das weite Feld der deutschsprachigen Heldenepik. Der Fülle des Materials ist es allerdings auch geschuldet, dass die einzelnen Werke nur in Ansätzen beleuchtet und nicht in ihrer Tiefe behandelt sowie durch neuere Forschungsbeiträge weiter erschlossen werden.

1 Ernest Tonnelat, La Chanson des Nibelungen. Étude sur la composition et la formation du poème épique, Paris 1926.
2 Jean Fourquet, Réflexions sur le »Nibelungenlied«, in: ders., Recueil d’études: Linguistique allemande et philologie germanique; littérature médiévale, Bd. 1: Études médiévales, Amiens, Paris 1979, S. 279–290.
3 Jan-Dirk Müller, Sage, Kultur, Gattung, Text. Zu einigen Voraussetzungen des Verständnisses mittelalterlicher Literatur am Beispiel des »Nibelungenlieds«, in: Christoph Fassbender (Hg.), Nibelungenlied und Nibelungenklage. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2005, S. 123–141; Joachim Heinzle, Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenlieds und das Dilemma der Interpreten. Mit einer Nachschrift über Leerstellen und Löcher, in: ders. (Hg.), Traditionelles Erzählen. Beiträge zum Verständnis von Nibelungenklage und Nibelungenlied, Stuttgart 2014, S. 149–164.
4 Harald Haferland, Memoriell bedingte Varianz: Zur Fassungsvarianz in der Heldendichtung anhand der ›Nibelungenlied‹-Handschriften B und C sowie der ›Wiener‹ und ›Heidelberger Virginal‹, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 148 (2019), S. 453–508.
5 Hermann Schneider, Die Geschichte und Sage von Wolfdietrich. Untersuchungen über ihre Entstehungsgeschichte, München 1913, S. 27–302.
6 Walter Samen, Der Spielmann im Mittelalter, Innsbruck 1983, S. 91.
7 Ute von Bloh (Hg.), Loher und Maller: Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos, Berlin 2013 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 50); Bernd Bastert (Hg.), Herzog Herpin: Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos, Berlin 2014 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 51); Ute von Bloh, Bernd Bastert (Hg.), Loher und Maller. Herzog Herpin: Kommentar und Erschließung, Berlin 2017 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 55); Ute von Bloh, Bernd Bastert (Hg.), Königin Sibille – Huge Scheppel: Editionen, Kommentare und Erschließungen, Berlin 2018 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 57).
8 Vgl. zum Beispiel Ute von Bloh, Ausgerenkte Ordnung. Vier Prosaepen aus dem Umkreis der Gräfin Elisabeth von Nassau-Saarbrücken: »Herzog Herpin«, »Loher und Maller«, »Huge Scheppel«, »Königin Sibille«, Tübingen 2002 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 119); Bernd Bastert, Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum, Tübingen, Basel 2010 (Bibliotheca Germanica, 54).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Anika Meißner, Rezension von/compte rendu de: Danielle Buschinger, L’épopée dans les pays de langue allemande, Paris (Honoré Champion) 2020, 312 p. (Essais sur le Moyen Âge, 73), ISBN 978-2-7453-5399-3, EUR 55,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81696