Nein, so ganz neu ist diese Biografie nicht; man mag sie die große Schwester jener »kleinen Jeanne« nennen, die der Autor 2006 in der Reihe »Beck – Wissen« publizierte und 2012 in einer für frankofone Leserinnen und Leser adaptierten Form unter dem Titel »Jeanne d’Arc en vérité« vorlegte1. Die recht erfolgreiche »kleine Jeanne« – sie brachte es auf eine fünfstellige Verkaufszahl – bildet also die Grundlage des hier anzuzeigenden Bands, der indes weit mehr als deren bloße Neuauflage darstellt. Es handelt sich um eine revidierte und um mehrere Kapitel erweiterte Version, nunmehr versehen mit einem über fünfzigseitigen Anmerkungsapparat, Register sowie ausführlichem Quellen- und Literaturverzeichnis. Gerade dieser umfangreiche Anhang weist den Verfasser, von Hause aus Neuzeithistoriker, der seit langem international und vor allem in Frankreich einen sehr guten Ruf im Bereich der Erforschung des Zeitalters des Ersten Weltkriegs genießt, als auch auf der Höhe der einschlägigen mediävistischen Standards stehend aus. Die Bearbeitung reicht bis in Nuancen und Facetten, so wenn etwa das Attribut »selbstsicher« für die »Pucelle« (2006, S. 31) durch »überlegen« (2021, S. 62) ersetzt wird (und dass der Verfasser sich dazu seine Gedanken gemacht hat, geht aus einer seiner vielen anderen Johanna-Studien hervor)2.
Aufs Ganze überzeugt insbesondere seine Gabe, die Darstellung der Ereignisse mit stringenten Analysen der zahlreichen »points chauds« im Leben und Sterben der Jungfrau (und damit auch der vielen unterschiedlichen Forschungspositionen) so zu verbinden, dass am Ende eine gut lesbare und lesenswerte Biografie vorliegt, die sich erfolgreich daran »versucht, die Komplexität dieser so unglaublichen Geschichte zu reduzieren« (S. 14), ohne dass dies aber zu einem Mangel an Differenzierung oder gar Niveauverlust führt; auch das engere Fachpublikum kann, anders als der Autor selbst annimmt (vgl. S. 14), meines Erachtens aus dem Buch durchaus Nutzen ziehen. Gerd Krumeich leitet ein gutes Grundverständnis, ein »bon sens«, was sich zum einen immer wieder in treffenden Beobachtungen und abgewogenen Wertungen niederschlägt (so etwa zur Männerkleidung Johannas [S. 236ff.] oder dass es ihr gelang, aus dem ursprünglich nur vorgesehenen Entsatz von Orléans »eine Art Kreuzzug zur Befreiung Frankreichs zu machen« [S. 81f.]). Und was ihn zum anderen davor bewahrt, sich – wie manch anderer Biograf – in einem Dickicht von Thesen und Vermutungen zu verlieren3. Seine Maxime ist eine Quellennähe und -kritik, die sich stets der Problematik der Akten des Kondamnations- und Nullitätsprozesses bewusst ist; jener weitaus wichtigsten Grundtexte, die das Bauernmädchen zwar zu einer der bestdokumentierten Personen ihres Jahrhunderts machen, aber von politischen Interessen erst der englischen, dann der französischen Partei bestimmt sind. Nur ganz vereinzelt gibt Krumeich eigenen Mutmaßungen wie im Fall der 6-Meter-Springerin Jeanne in Beaurevoir Raum (S. 13, 214ff.).
Jahrzehnte der Beschäftigung mit seiner »Heldin«, die mit seiner Düsseldorfer Habilitationsschrift über die Rezeption der »Pucelle« unter den Vorzeichen von Mythografie und Instrumentalisierung in der Neuzeit, und da besonders im 19. Jahrhundert, eindrucksvoll 1989 einsetzte4, um sich dann immer stärker Johanna in deren eigener Zeit zu nähern – so etwa steht sie für ihn als Kämpferin für den Übergang vom Ritter- zum Volkskrieg –, sie haben zu einer Vertrautheit mit der Thematik geführt, die überaus komplex-komplizierte Sachverhalte am Ende, auch in Sprache und Stil, einfach und klar, ja leicht aussehen lässt: Ausweis einer souveränen Beherrschung der Materie. Als Kontrast hierzu mag die fast zeitgleich erschienene Johanna-Biografie von Valérie Toureille dienen, die, faktenüberladen und mit zahlreichen Mängeln belastet, eine mühsame und unbefriedigende Lektüre darstellt5. Apropos Jahrzehnte der Beschäftigung und Vertrautheit: En passant erfährt man von der persönlichen Bekanntschaft des Autors mit der Jeanne d’Arc-»Institution« Régine Pernoud oder mit Jacques Rivette, 1994 Regisseur des Films »Jeanne la Pucelle« (S. 347, Anm. 26). Und der Spezialist wird schmunzelnd zur Kenntnis nehmen, dass Krumeich im Besitz ausgerechnet jenes Exemplars der lange gültigen und auch heute noch zitierten Ausgabe der Quellen zu den Jeanne d’Arc-Prozessen von Jules Quicherat (1841–1849) ist, das im 19. Jahrhundert Bischof Félix Dupanloup bei seinen Bemühungen um eine Kanonisation Johannas intensiv nutzte (S. 336, Anm. 13): Der Oberhirte von Orléans stützte sich mithin für die Heiligsprechung auf das Werk eines erklärten republikanischen Freidenkers und Antiklerikalen (indes bedeutenden Editors und Historikers)6.
Natürlich hat der Beckmesser im Rezensenten auch einige unter die Rubrik Corrigenda fallende Kleinigkeiten gefunden und einen Hinweis vermisst: Herzog Philipp der Kühne von Burgund war Onkel, nicht Vetter Karls VI. (S. 16, recte S. 393); bei Orléans fehlt der Akzent (S. 5 und dann durchgängig); Johanna hat möglicherweise gelogen und damit gegen das achte, nicht aber das fünfte Gebot verstoßen (S. 50). Ob geistig mit geistlich gleichzusetzen ist, bleibe dahingestellt (S. 72). Jean Gerson war kein Kirchenrechtler, sondern Theologe (S. 76, vgl. Vf. selbst S. 115); 1415 tagte ein Allgemeines Konzil in Konstanz, erst 1431 trat ein solches in Basel zusammen, das aber nicht über die Jungfräulichkeit »an sich«, sondern die Immaculata Conceptio Mariens diskutierte (S. 76). Bei »Chalons« handelt es sich um Châlons-en-Champagne (früher Châlons-sur-Marne) (S. 141, 145). Nicht sicher bin ich mir, ob Jeanne, wie Krumeich wiederholt sagt (S. 32, 80 u. ö.), in aller Form im Rang eines Capitaine der königlichen Armee firmierte oder ob sie nicht vielmehr – so ein Chronist der Zeit – wie ein Kapitän auftrat (S. 158). Mit Recht hebt er den hervorragenden Stummfilm des Dänen Carl Theodor Dreyer »La passion de Jeanne d’Arc« (1928) hervor, ohne jedoch die nicht minder herausragende – und hier auf einem Plakat abgebildete – Darstellerin der Johanna, Renée Jeanne/Maria Falconetti, namentlich zu erwähnen. Schließlich noch ein Wort zu den relativ häufigen und kommentarlosen Rekursen auf Artikel in einem 2017 erschienenen, umfänglichen »Dictionnaire encyclopédique de Jeanne d’Arc« von Dominique Le Tourneau und Pascal-Raphaël Ambrogi. Zwar breitet dieser eine imposante Fülle an Material aus und geht in manchem weit über das fünf Jahre zuvor von Philippe Contamine, Olivier Bouzy und Xavier Hélary vorgelegte Standardwerk »Jeanne d’Arc. Histoire et Dictionnaire« hinaus, doch durchzieht ihn der Ungeist eines nationalistischen Rechtskatholizismus, der im Frankreich unserer Tage immer noch einen Wurzelgrund hat7. Ohne einer Cancel(un)kultur das Wort zu reden, wäre hier meines Erachtens zumindest ein entsprechender Hinweis angebracht gewesen. In diesem Kontext würde ich der einleitenden Bemerkung des Autors, es gebe heute keine übermächtige Ideologie der Nation mehr (S. 10), zwar gerne zustimmen, kann aber eine gewisse Skepsis nicht verhehlen.
Wofür Krumeich natürlich nicht verantwortlich zeichnet, ist einmal mehr das eher mediokre, Beck-übliche Schwarz-Weiß der Abbildungen. Warum der ansonst bis hin zu den Umschlägen seiner Publikationen um ansprechend gestaltete Bücher bemühte Verlag offenbar prinzipiell an diesem bisweilen an Ostblock-Grau erinnernden »Sparstandard« festhält, bleibt mir ein Rätsel, was auch für das im Übrigen eher sparsam beigegebene Kartenmaterial gilt. Hätte man nicht zumindest noch eine für die frühen Jahre Johannas aussagekräftige Karte ihrer Heimatregion Domrémy-Neufchâteau-Vaucouleurs zufügen können?
Grundsätzlich aber bleibt festzuhalten, dass fast 200 Jahre nach dem in seiner Zeit Maßstäbe setzenden Werk von Guido Görres (1834) Krumeich einen neuerlichen Meilenstein in der deutschen Johanna-Forschung platziert hat. Sicher war es von Vorteil, dass er sich zunächst, wie gesagt, mit Jeanne in der Geschichte, mit all den Mythisierungen und Verformungen ihrer Person beschäftigte, um darüber jene Distanz, jenen Grad an möglicher Objektivität zu erreichen, die gute Historikerinnen und Historiker auszeichnen. Dazu der Autor selbst: »Diese Selbstrelativierung ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Verlust an Erstaunen und Bewunderung« (S. 12). Ja, eine gewisse Sympathie des Biografen für seine »Heldin« ist unverkennbar, wie schon ein erster Rezensent des Buchs anmerkte8. Doch nicht zuletzt ebendiese kritisch grundierte Sympathie, gepaart mit Sachkenntnis und Darstellungsgabe, trägt zu dessen überaus ansprechendem Profil bei.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Gerd Krumeich, Jeanne d’Arc. Seherin, Kriegerin, Heilige. Eine Biographie, München (C. H. Beck) 2021, 399 S., 18 Abb., 1 Stammtaf., 2 Kt., ISBN 978-3-406-76542-1, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81705