Hier ist sie also, die laut Verlag quasi gültige Jeanne d’Arc-Biografie, die quellenbasiert Johanna endlich in den rechten Kontext stellt, die mit Legenden aufräumt und zudem mit Neuigkeiten aus ihrem Leben aufwarten kann, nachdem in den letzten hundert Jahren über sie nur Publikationen »plus ou moins fantaisistes« erschienen sind. Vergesst mithin Contamine, Beaune, Michaud-Fréjaville und Co., jetzt kommt Valérie Toureille, »médiéviste de grande renommée«. Ich zitiere aus dem Umschlagtext des anzuzeigenden Bands und stelle auf die vor solchem Hintergrund sicher rhetorische Eingangsfrage der Autorin »Pourquoi écrire un nouvel ouvrage sur Jeanne d’Arc, alors qu’il en existe tant?« (S. 9) die Gegenfrage: Ja, warum eigentlich und warum ausgerechnet dieses Buch? Denn das, was auf den folgenden gut 400 Seiten geboten wird, kann, nein: darf es nicht gewesen sein. Über weite Strecken erschöpft sich der Band auf der Basis aneinandergereihter und kommentierter Quellenauszüge in einer endlos Einzelheiten addierenden, manche Nebenwege einschlagenden und dabei nicht wenige Fehler und Ungenauigkeiten aufweisenden Ereignisgeschichte1; hinzu kommen nicht minder lange Ketten von Kurzbiogrammen und Listen von Teilnehmern am jeweiligen Geschehen. Früher hätte es schlicht geheißen: Hier schüttet jemand seine Karteikästen aus, und für die armen Leserinnen und Leser gilt: Es macht so müde, ein Mensch zu sein.
Gerade in der Sache weniger Versierte sehen sich indes neben solch fakten- und personenüberfrachteter Darstellung auch mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die Verfasserin wohl um des vermeintlichen Effekts willen mit zwei Kapiteln zur Belagerung und Befreiung von Orléans 1429 einsetzt (S. 13–62), ohne dass sie näher auf die zum Verständnis notwendige Vorgeschichte und auf deren Hintergründe einginge. Dies erfolgt erst in einem fünften Kapitel »Les héritiers d’Azincourt« (S. 122–161), wobei sie sich strikt an das Datum des – von ihr 2015 in einer eigenen Monografie thematisierten – militärischen Desasters von 1415 als terminus a quo hält, sodass Johannas außerordentliche Bedeutung etwas relativierende strukturelle Faktoren langer Dauer wie etwa die Ressourcenpotenz des »Rest«-Frankreich der Valois, dessen starke etatistisch-institutionelle Grundlagen oder die schon an der Wende des 14./15. Jahrhunderts einsetzende Propaganda für Königtum und Reich wenig Berücksichtigung finden.
Auch der Umstand, dass Karl VII. nach den Wirren der Frühzeit über Jahrzehnte hin ein kompetenter und kontinuierlich wirkender Rat zur Verfügung stand (sein Epitheton »le bien conseillé« hat guten Grund), wird kaum erwähnt; insbesondere über die geistlichen Ratgeber wie z. B. den seit 1422 meistbelegten conseiller überhaupt, Bischof Robert de Rouvres von Sées und Maguelonne, oder den Beichtvater des Herrschers Gérard Machet fällt fast kein Wort. (Dass, um nur ein Beispiel zu zitieren, 1429 auf dem von Johanna betriebenen Zug nach Reims zur Salbung und Krönung des Dauphins in gespannter Situation eine einvernehmliche Übergabe von Troyes an die Truppe Karls VII. gelang, könnte durchaus im Zusammenspiel des Ortsbischofs Jean Léguisé mit Machet, seinem früheren Konsodalen am Pariser Navarrakolleg, gründen.)
Und schließlich halte ich es bei einem Werk mit (auch) wissenschaftlichem Anspruch für fragwürdig, wenn – wohl mit Blick auf besagt weniger kundige Leserinnen und Leser – der größeren Anschaulichkeit wegen die zitierten Quellen in Ichform transponiert wurden (was im Fall der Aussagen im Kondamnations- und Nullitätsprozess allerdings auch manch andere Autoren praktizierten), und sie sich vor allem in ein seltsam anmutendes modernes Französisch übertragen finden, das bewusst mit alten bzw. altertümlichen Wendungen durchsetzt wird. ValérieToureille dazu kurz und forsch: »J’ai modernisé les textes en tentant de respecter les tournures du temps. C’est un exercice que les historiens n’aiment pas pratiquer, mais c’est la seule façon de faire partager l’émotion qui nous saisit à chaque fois que nos yeux se posent sur un manuscrit« (S. 11).
»Nous«, »nos«: Von sich selbst berichtet sie nicht ungern; so weist sie etwa immer wieder auf ihre Studie »Robert de Sarrebrück ou l’honneur d’un écorcheur« (2014) hin, der wiederholt im weiteren lothringischen Umkreis Johannas begegnet. Gerade das davon handelnde dritte Kapitel »Une jeune femme de Lorraine« (S. 63–95) hat aber durchaus seinen Wert, zeichnet sich hier doch ein – teilweise aus Handschriften geschöpftes – Personalnetz ab, welches die Familie der »Pucelle« darin so fest situiert zeigt, dass etwa ihrem hartnäckigen Drängen auf ein Treffen mit Robert de Baudricourt, dem Vertreter der Krone in dem ihrem Heimatdorf Domrémy nahen Vaucouleurs, schon unter diesem Aspekt eine gewisse Logik eignet.
Auch dürfen neue Aufschlüsse etwa zur mütterlichen Verwandtschaft der Vouthon ein gewisses Interesse beanspruchen, ohne dass dies jedoch mit grundstürzend neuen Erkenntnissen verbunden wäre. Eigentlich stünde genau hier ein Rekurs auf das – nicht minder detailversessene – Werk von Heinz Thomas zu erwarten2, das akribisch die Welt der frühen Jahre Johannas zwischen Bar, Lothringen und dem Reich analysiert, allein Toureille folgt konsequent dem Prinzip: »Germanica non leguntur«. Nun stehen deutsche Beiträge zwar nicht unbedingt im Zentrum der Jeanne d’Arc-Forschung, doch sind sie seit den Tagen eines Guido Görres (1834) bis hin zur jüngsten Biografie von Gerd Krumeich3 (2021) schon integraler Bestandteil des wissenschaftlichen Diskurses. Es mag vielleicht schlicht an fehlenden Deutschkenntnissen der Autorin liegen, wenn sie selbst von einem französischen Aufsatz von Philippe Contamine zu dem von ihr mehrfach thematisierten Komplex »Konzil(iarismus), Papst und Johanna-Prozesse« keine Notiz nimmt, wohl weil er in einer deutschen Publikation erschien4.
Doch selbst im innerfranzösischen Kontext vermisst man die Diskussion der Positionen anderer Autoren zu zentralen Aspekten der Johanna-Forschung. Die interessanten Thesen etwa der Biografin Colette Beaune, deren Arbeiten man kaum besagten »ouvrages plus ou moins fantaisistes« zurechnen wird, müssten doch jeden der sich nach ihr am Thema Versuchenden zur Stellungnahme reizen, was ebenso für Beaunes nicht minder grundlegenden Beitrag »Naissance de la nation France« (21993) zur – wohlgemerkt: regen – Erforschung der Genese französischen Nationalgefühls im Spätmittelalter gilt. (Die Behauptung »La naissance d’un premier sentiment national n’a jamais fait l’objet des études approfondies, mais c’est à cette époque que l’on en distingue les premières manifestations« [S. 153] ist schlicht und einfach falsch.)
Mit solcher Forschungsdiskussion hätte sich der immerhin über 40-seitige Anmerkungsteil (S. 349–391) des Buchs wohl sinnvoller füllen lassen als hier geschehen. Nur zwei Beispiele: Zu besagtem Jean Léguisé wird lediglich angemerkt, dass er, 1386 geboren, Sohn eines Tuchhändlers war und 1430 nobilitiert wurde (S. 376, Anm. 56), und von Jean Gerson heißt es, der 1363 in den Ardennen Geborene sei kurz nach der Abfassung seines Traktats zugunsten der Jungfrau 1429 in Lyon gestorben (S. 371, Anm. 20). Noch negativer fällt ins Gewicht, dass die Verfasserin in den »Notes« Angaben zu den Belegorten für über Seiten hin zitierte Quellen oft schuldig bleibt oder nur unvollständig angibt. Was auch für jene Quellenkollage gegen Ende gilt, die Grundlage ihrer Darstellung von Johannas Hinrichtung ist (S. 335–340); präzise Verweise auf die jeweiligen Seitenangaben in den (im Anhang bibliografisch erfassten) Editionen von Quicherat, Champion, Tisset oder Duparc wird man vergeblich suchen. Mit dem Drama des Feuertods endet auch – man möchte sagen: sang- und klanglos – das Buch. Auf knapp sieben Seiten folgt unter dem wohl auf den Königshof zielenden Titel »L’oubli« (S. 340) nur noch ein kurzer Ausblick bis zum Rehabilitations- und Nullitätsverfahren in den Fünfzigern, dann heißt es lapidar: »L’histoire tournait la page, la légende pouvait prendre le pas sur elle« (S. 347).
Nein, nicht alles ist schlecht in diesem Buch – so nimmt man etwa durchaus treffende Bemerkungen über das Verhältnis Karls VII. zu Johanna zur Kenntnis (u. a. S. 139) –, doch schon von seiner Anlage her zeigt es, dass beim Versuch einer Jeanne d’Arc-Biografie schlecht beraten ist, wer nicht der klugen, auf tiefere Dimensionen der Durchdringung des Themas zielenden Feststellung eines Bernard Guenée folgt: »L’apparition de Jeanne d’Arc n’est pas un miracle, c’est un aboutissement«5. Mir ist durchaus bewusst, dass ich damit herbe Kritik am Werk einer Autorin übe, die seit Jahren mit großem Fleiß auf den Gebieten der Kriminalität und Kriegsführung im spätmittelalterlichen Frankreich tätig ist und deren an durchaus renommierten Publikationsorten erschienene Arbeiten mit ihrer Verbindung von Historie, Recht und Soziologie in der Tradition ihres Lehrers Robert Fossier stehen. Und ich weiß auch, dass sie sich noch kürzlich Verdienste um die Ausstellung zur Sechshundertjahrfeier des Vertrags von Troyes erworben hat6, allein auf der Liste ihrer Veröffentlichungen sollte und dürfte diese »Jeanne d’Arc«, zumindest nach meinem Dafürhalten, nicht gerade obenan stehen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Valérie Toureille, Jeanne d’Arc, Paris (Perrin) 2020, 432 p. (Biographies), ISBN 978-2-262-06394-8, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81718