Die Herausgeber des anzuzeigenden Sammelbandes haben sich einer Thematik angenommen, die derzeit in der öffentlichen Debatte – politisch, medial und akademisch – hoch im Kurs steht. Umso bemerkenswerter ist es, dass Ausgrenzung und der hiervon betroffene Einzelne während des Übergangs von der Spätantike zum Frühen Mittelalter bislang noch nicht die Aufmerksamkeit gefunden haben, die diese Gegenstände fraglos verdienen. Der rundum gelungene Band versammelt sechzehn Beiträge und zeigt unterschiedliche Perspektiven auf, wie sich die »soziale Konstruktion des ausgegrenzten Subjekts« im Untersuchungszeitraum in den Blick nehmen lässt. Hervorgegangen ist der Band aus einer Tagung, die im Frühjahr 2014 an der Universität Padua stattgefunden hat. Aus historischer Sicht ist begrüßenswert, dass es sich bei den Beiträgen, des theoretisch aufgeladenen Werktitels zum Trotz, nicht primär um soziologische, sondern um quellenbasierte, geschichtswissenschaftliche Arbeiten handelt.
Die Herausgeberinnen und der Herausgeber haben bewusst davon abgesehen, von einem ausgegrenzten »Individuum« zu sprechen, und ziehen stattdessen die Formulierung »Subjekt« vor. Die Begründung liefert Guy Halsall, der ein beachtenswertes Caveat semantischer Art vorwegschickt (S. 15–26). Er stellt fest, dass die Rede vom Individuum nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich unglücklich sei, da die Person, die jeweils als ein solches bezeichnet werde, alles andere als unteilbar sei. So gehöre der Einzelne, nachgerade im Mittelalter, jeweils verschiedenen sozialen Gruppen an, die etwa durch Ethnizität, Rechtsstatus, Geschlecht, Familienzugehörigkeit, soziale Stellung, Amt oder anderes definiert sind. Wenngleich die kontingente Schnittmenge dieser Gruppenzugehörigkeiten mit Blick auf den Einzelnen jeweils eine unverwechselbare Konstellation herbeigeführt habe, sei das hierdurch charakterisierte Individuum eben nicht im Wortsinne ein solches, sondern setze sich aus der »Summe seiner Teile« zusammen.
Anschließend geht Arnaud Lestremau der Frage nach, inwieweit sich soziale Ausgrenzung an Personennamen festmachen ließ (S. 27–42). Lestremau, dessen Untersuchung auf Frankreich und England fokussiert, vermag zu zeigen, dass der Name durchaus als Argument angeführt werden konnte, wenn es galt, die Nichtzugehörigkeit zu einer Gruppe herauszustellen. Insgesamt aber sei der Name nicht mehr als ein loser Indikator gewesen, der weder als hinreichende noch als notwendige Bedingung für Gruppenzugehörigkeit angesehen werden könne.
In einem sehr lesenswerten Aufsatz untersucht Julia Hillner anschließend zwei Formen spätantiker Exklusion: die Einweisung Straffälliger in ein Kloster sowie die Zwangsordinierung zum Kleriker (S. 45–68). Hillner zeigt, dass beide Praktiken nicht zwangsläufig auf Anweisung der politischen Zentrale durchgesetzt wurden, sondern ebenso gut auf die Initiative der Delinquenten zurückgehen konnten. Hierauf wendet sich Alban Gautier den unterschiedlichen Ausprägungen zu, die »figures de l’exclu et mécanismes de l’exclusion au temps de Bède le Vénérable« annehmen konnten (S. 69–82).
In einem originellen Beitrag untersucht anschließend Alice Rio die Strafversklavung im Frühen Mittelalter (S. 83–98). Bei der Strafversklavung handelte es sich um ein Rechtsinstitut, das insbesondere in Fällen griff, wo ein Beklagter, vor Gericht eines Verbrechens überführt, die Summe der eingeforderten Kompensation nicht aufzubringen vermochte. Die Versklavung des Straftäters bot nun dessen Verwandten die Möglichkeit, für das Familienmitglied in die Bresche zu springen und es freizukaufen. Rio stellt die These auf, dass es bei den hiermit verbundenen Praktiken nicht primär auf den sozialen Status des Straftäters ankam, sondern vielmehr darauf, inwieweit der Verurteilte in der Lage war, genügend Unterstützer zu aktivieren, die ihn freikauften.
Die verschiedenen Formen der Leibesstrafen, die nicht nur in Byzanz, sondern auch im frühmittelalterlichen Westeuropa verbreitet waren, behandelt schließlich François Bougard (S. 99–119). Der Verfasser stellt fest, dass die sichtbare Ächtung, die mit diesen Strafen einherging, bei manchen Strafformen nur temporär war (etwa bei der decalvatio oder bei Stockschlägen), bei anderen allerdings lebenslang (etwa der Amputation oder Brandmarkung).
Albrecht Diem fragt nach dem Ausschluss von Personengruppen aus Klöstern (S. 123–147). Er betont, dass die Exponenten des Monastizismus zwar stets eine »rhetoric of accessibility« pflegten, der Eintritt in die Gemeinschaft also im Grundsatz jedermann offen stand. Allerdings zeigt der instruktive Blick auf die normativen Bestimmungen – als besonders informativ erweist sich hier Hildemars Kommentar zur Benediktsregel –, dass manchen Personengruppen die Aufnahme weitaus schwerer gemacht wurde als anderen: Das galt besonders für geweihte Priester, für Mönche, die bereits andernorts die Profess abgelegt hatten, und erst recht für Unfreie und pauperes, wie immer man diesen Begriff gerade definierte.
Warren Pezé wendet sich der sogenannten »Confessio prolixior« des Gottschalk von Orbais zu (S. 149–167). Pezé sieht hierin ein Extrembeispiel eines Textes, »der aus sich selbst heraus Exklusion und Inklusion produziert«, indem er seine Leser nachdrücklich in Auserwählte und Verdammte einteilt. Barbara H. Rosenwein zeigt schließlich am Beispiel von Texten Gregors des Großen, dass die Unterscheidung von »richtigen« und »falschen« Emotionen ihrerseits eine inkludierende bzw. exkludierende Funktion haben konnte (S. 169–178).
Auf zwei aufschlussreiche, vorwiegend archäologische Beiträge von Mathieu Vivas (S. 179–203) und Irene Barbiera (S. 207–225), die Exklusion anhand frühmittelalterlicher Bestattungspraktiken nachzuweisen versuchen, folgt ein Aufsatz von Mathew Kuefler, der die These entwickelt, dass sich durch die Verchristlichung der spätantiken Gesellschaft ein neuartiges Verständnis von Homosexualität ausgebildet habe, das sich von antik-paganen Traditionen fundamental unterschied (S. 227–240). Es muss allerdings offenbleiben, ob hier nicht auch philosophische Konzepte zum Tragen kamen (Kuefler nennt selbst die Stoa), die von der jüdisch-christlichen Tradition unbeeinflusst waren. Ausgehend von einer Konstitution Konstantins des Großen (Codex Theodosianus IV 6,3), untersucht sodann Judith Evans Grubbs die Ehegesetzgebung in der Spätantike und fragt danach, welche Personengruppen hiervon jeweils betroffen waren und wie diese damit umgingen (S. 241–257).
Der Band schließt mit einem anregenden Beitrag von Tiziana Lazzari zum innerkirchlichen Umgang mit verheirateten Klerikern. Die Verfasserin wirft einen Blick auf die sich wandelnden Bestimmungen des Kirchenrechts vom 4. Jahrhundert bis zur Gregorianischen Reform (S. 259–273). Dieser Weg, den Lazzari als fortschreitende Entwicklung versteht, sei nicht nur aus ökonomischen Gründen eingeschlagen worden, sondern auch wegen liturgischer Leitvorstellungen (Stichwort: kultische Reinheit) sowie in dem Bewusstsein, dass verheiratete Kleriker in familiäre Loyalitätsgeflechte eingebunden waren, die sich der kirchlichen Hierarchie nicht unterordnen ließen.
Der Sammelband bietet einen wichtigen und innovativen Beitrag zur Erforschung eines bisher eher wenig beachteten Themas der frühmittelalterlichen Geschichte, ein Verdienst, das in dieser Besprechung freilich nur unzureichend gewürdigt werden kann. Viele Aufsätze sind von hoher handwerklicher Qualität und bereichern unseren Wissensstand um neue Erkenntnisse.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Till Stüber, Rezension von/compte rendu de: Sylvie Joye, Maria Cristina La Rocca, Stéphane Gioanni (dir.), La construction sociale du sujet exclu (VIe–XIe siècle). Discours, lieux et individus, Turnhout (Brepols) 2019, 292 p., 15 ill. en n/b, 1 ill. en coul. (Haut Moyen Âge, 33), ISBN 978-2-503-57605-3, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81796