Yann Potin, den französischen Archivaren und Mediävisten ein wohlbekannter Name, legt in dem vorliegenden Band eine Zusammenstellung von zehn verschiedenen Aufsätzen aus den Jahren 1999–2008 vor, welche zumeist in vollem Wortlaut bereits an anderer Stelle publiziert wurden1. Es handelt sich also um eine Bündelung inhaltlicher Substrate, die unter drei Großkapiteln subsummiert werden: Schätze in Form von Schriftgut, die Bibliothek des Louvre und das Archiv.
Grundsätzlich stellt sich natürlich die Frage, ob es eines Sammelbandes mit bereits publizierten Texten bedarf, um eine Thematik in verbindenden Aspekten (erneut) zu durchleuchten. Eine gewisse Aktualisierung erfuhren wohl einzelne Aspekte, da zumindest das 17-seitige Literaturverzeichnis um fünf nach 2008 erschienene Literaturangaben ergänzt wurde. Um es insgesamt vorwegzunehmen, ein schwieriges Unterfangen.
Potin erläutert seine Ambitionen im Vorwort (S. 13–20), ausgehend von der Frage: Unter welchen Bedingungen kann man von »Archiven« der Macht im Mittelalter sprechen? Es geht um das Frage, warum und wie mittelalterliche Bibliotheken und Archive als Grundlage mittelalterlicher Herrschaftsformen gelten können.
Das erste Großkapitel (S. 23–67) widmet sich der materiellen, materialistischen Seite des (Königs-)Schatzes. Der erste Aufsatz erläutert den Inhalt eines schwer zu greifenden Objekts (S. 23–28). Ob die Könige Schätze gesammelt haben, ist die zentrale Frage im zweiten Aufsatz (S. 29–41). Ausgehend vom Wort des Evangelisten Matthäus 6, 19–21 sieht Potin bis zum 12. Jahrhundert eine Monetarisierung des ursprünglich geistlichen Kirchenschatzes. Infolgedessen existieren verschiedene Aufbewahrungsorte des »Schatzes« bzw. der »Schätze«. Die Verteilung auf verschiedene Orte (Château de Melun, Louvre, Saint-Germain-en-Laye, Château de Vincennes) ist natürlich der Tatsache geschuldet, dass es sich in dieser Zeit um ein Wanderkönigtum handelte.
Der inhaltlich bedeutsamste Aufsatz dieses ersten Großkapitels ist der dritte über den König als Schatzmeister (S. 43–67). Auf der Grundlage einer Chronologie des Königsschatzes, beginnend mit dem 7. Jahrhundert, zeigt Potin die tiefe Zäsur, die zwischen Hoch- und Spätmittelalter eingetreten war. Die im Hochmittelalter einsetzende Sakralisierung des Schatzes, der einen spirituellen Wert erhielt, setzt sich im Spätmittelalter nicht fort. Eine zentrale Stellung kommt hier der Sainte-Chapelle zu, der Palastkapelle des königlichen Residenz auf der Île de la Cité2.
Mit dem zweiten Großkapitel (S. 69–138) wendet Potin seine Aufmerksamkeit der Bibliothek des Louvre (Trésor de »sapience«) zu. Die Anfänge und Nutzung der 1367/68 gegründeten Bibliothek (Kapitel 4, S. 71–83) haben vielerorts Aufmerksamkeit auf sich gezogen3. Durch zwei Register des königlichen Bibliothekars Gilles Malet (1373–1411), der das erste, 917 Werke umfassende Inventar erstellte, sind wir über den Inhalt recht gut informiert. Gleichwohl stellte vor allem die zeitgenössische Zuordnung der Bücher Malet vor gewaltige Probleme, die erst heute teilweise aufgelöst werden können.
Von zentraler Bedeutung im Kapitel 5 (S. 85–107) ist die Frage, ob man die Geschichte der Bibliotheken studieren kann, indem man nur die Archive bzw. die Inventare benutzt, die diese Bücher klassifiziert und verwaltet haben, wobei die Klassifizierung den mittelalterlichen »Bibliothekar und Archivar« vor erhebliche Probleme stellte. Mittelalterliche Bibliothekskataloge im modernen Sinne gab es nicht und mittelalterliche Archive wurden oft als eine Art Findmittel zur Identifizierung der Handschriften missverstanden.
Das Kapitel 6 (S. 109–138) bringt die große Politik ins Spiel. Nach dem Tod Karls V. 1380 ging die Herrschaft an einen Regentschaftsrat für den unmündigen Karl (VI.) über, bestehend aus den Brüdern Karls V., mit tiefreichenden Folgen für den »Schatz«. Ludwig I. von Anjou, ein Bruder Karls V., wurde aus dem Rat entlassen und entnahm der königlichen Bibliothek an drei verschiedenen Terminen Bücher in Übersetzungen, die offensichtlich seinen Vorlieben (u. a. Aristoteles, Guillelmus Durandus, Augustinus, Valerius Maximus) entsprachen. Das weitere Schicksal dieser Bände erschließt sich aus dem Inhalt des Aufsatzes nicht.
Teil 3 handelt abschließend von den mittelalterlichen Archiven. In dem kurzen einleitenden Kapitel 7 (S. 141–150) geht Potin auf das französische Königtum und seine Beziehungen zu den »Archiv-Wissenschaften« im Mittelalter ein. Eine zentrale Stellung nimmt hier Gérard de Montaigu ein, der das königliche Archiv von 1364 bis 1391 leitete. Auf ihn geht die Neuordnung des Archivs zurück. Zwar mutet seine Klassifizierung der Bücher in »nützliche, unnütze und völlig unnütze« (S. 146) etwas rigoros an, gleichwohl gab er dem König die Möglichkeit, die wichtigsten Dokumente durch die Neuordnung schnell zur Hand zu haben.
In Kapitel 8 (S. 151–178) schreibt Potin die Geschichte der Urkundenarchivs und des königlichen Archivs im Spätmittelalter fort. Es ist für königliche, aber auch adlige Archive durchaus üblich, dass zunächst eine relative Unordnung innerhalb der verschiedenen Archivalien herrschte.
Mit Kapitel 9 (S. 179–206) wird die historische Tradition, beginnend bei Ludwig IX., untersucht. Eher als Nebeneffekt berichtet Potin hier über die neuentdeckte Sammlung des Gerichtsmediziners Philipps des Schönen sowie weitere Dokumente aus dem Umkreis des Templerordens und zu seiner Zerschlagung.
Im letzten Kapitel 10 (S. 207–231) geht Potin schließlich auf die Baulichkeit des Schatzes, das Archivgebäude, ein. Das »alte« Archivgebäude wurde in den Wirren der Französischen Revolution zerstört. Potin sieht das Gebäude als Spiegel der Revolution.
Das Ende der Aufsatzsammlung wird von einer Zusammenfassung bzw. einem Fazit (S. 233–238) gebildet. Hier stellt Potin das mittelalterliche königliche Archiv in den Kontext europäischer Archive desselben Zuschnitts. Vielleicht wären aber neue Interpretationen möglich gewesen, wenn andere »Arten« von Bibliotheken oder Archiven als vergleichendes Moment als Selbstbildnis zu Rate zu gezogen worden wären, beispielsweise die Bibliothek(en) Benedikts (XIII.)4.
Die abschließende Bibliografie (S. 241–260) enthält ungedruckte Quellen, Quellenwerke und Sekundärliteratur. Ein Index, bestehend aus Personen-, Werk-, Autoren- und Ortsregister (S. 261–268), beschließt den Band.
Damit zurück zur anfänglichen Frage, ob eine Zusammenführung bereits publizierter Aufsätze in einem Sammelband zielführend sein kann. Als Handreichung für künftige Archivare oder Bibliothekare kann der Band sicher nicht dienen, wohl aber zur intensiven Beschäftigung mit der Materie des verschriftlichten Schatzes, die heute mit ganz klaren Ordnungskriterien versehen ist, die im Mittelalter aber nicht bekannt und auch nicht praktikabel waren. Gleichwohl hätte der Band mit einer Einarbeitung neuerer, auch fremdsprachiger Literatur an Tragweite gewonnen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Anette Löffler, Rezension von/compte rendu de: Yann Potin, Trésor, écrits, pouvoirs. Archives et bibliothèques d’État en France à la fin du Moyen Âge. Préface de Patrick Boucheron, Paris (CNRS Éditions) 2020, 272 p., ISBN 978-2-271-13239-0, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81797