Der außerhalb der Editionsreihe des französischen Inschriftenwerks (»Corpus des inscriptions de la France«, 26 Bände, im folgenden CIFM) erschienene thematische Sonderband zu den Grabinschriften der (französischen) Karolingerzeit befasst sich mit diesen Spezimina von der Mitte des 8. bis zum Ende des 10. Jahrhunderts. Die geografische Umschreibung »centre-ouest« ist nicht deckungsgleich mit einer administrativen Bezeichnung, umfasst vielmehr die westlichen Teile der Region Centre-Val de Loire, die nördlichen der Region Nouvelle-Aquitaine und die östlichen der Region Pays de la Loire, kurzum die karolingischen Zentrallande zwischen den alten Metropolen Angers, Melle, Poitiers und Tours – mit wenigen westlich davon liegenden Standorten im Überschneidungsgebiet von Neustrien und Aquitanien.

Dieser geografische Ausschnitt Frankreichs bietet hinsichtlich des erhaltenen und nur über die Dichtung Alkuins überlieferten Materials den konzentriertesten Bestand karolingischer Inschriftentexte, solcher von Grabinschriften zumal, neben denen hier wie sonst kaum andere Texte bekannt geworden sind.

Eine Sammeledition, die in hohem Maße rezente Bände eines großen Editionswerks versammelt – wie CIFM 1/1–31, 23, 24 und 252 – und kein unediertes Material bietet, muss sich der Frage des Mehrwerts stellen. Dieser ist vorhanden, wie ein Blick auf eine zufällig ausgewählte, aber gleichwohl für den Band repräsentative, hier frühkarolingische Grabinschrift, die des Ermdramnus (Nr. 27, a. 771) in Angers zeigt. Nach wörtlicher Übernahme der Beschreibung, Basisinformationen und einer modernen Umschrift mit (hier) leicht verbesserter Übersetzung weiter unten präsentiert die neue Edition zusätzlich zu der früheren eine ausführliche Analyse der Schrift nach dem Vorkommen von besonderen Einzelformen3, die Ergänzung eines kleineren Bildes durch eine hilfreiche Nachzeichnung mit zusätzlicher diplomatischer Umschrift und weitreichende Informationen zur Sprache, zur Datierung durch die Kombination von ambivalentem Herrschernamen »Karl« und Schrift, zur Einordnung der Schrift, zur Namensform und -familie »Ermen-« und zur modernen Tagesdatierung in Abgrenzung zum sonst üblichen römischen Kalender. Das sind allesamt nützliche (und früher teils vermisste) Zusatzinformationen, die kaum eine Frage offenlassen.

Diese zusätzlichen Ausführungen sind das Rohmaterial für eine in der Reihe neue Art analysierender Einleitung, die sich dem Phänomen »Karolingische Renaissance« zuwendet. Es wurden hierbei Auswertungsansätze in den Blick genommen, die in der regulären Editionsreihe schmerzlich vermisst werden, nämlich neben einem knappen Exkurs zur karolingischen Renaissance (Nr. 1) und zu einer als epigrafisches Referenzcorpus zu betrachtenden Sammlung (Nr. 2)4 in den einzelnen Nummern vorbereitete, größtenteils auch methodisch interessante Bemerkungen etwa zu Aufnahmekriterien, älterer Überlieferung und deren Ertrag (Nr. 3.1–3): Ausgeschlossen wurden sowohl nicht eindeutig in den Zeitraum datierbare Inschriften, aber auch das Hadrian-Epitaph, dessen Material nun dem Maas-Tal zugeordnet wird5, als auch nicht sicher als ausgeführte Inschriften nachweisbare carmina. Hilfreich ist der knappe Überblick über forschende Vorgänger und eine kleine Liste von Inschriften, deren Zuschreibung in die Karolingerzeit umstritten war.

Über die Edition weit hinaus nützlich und lehrreich sind Auslassungen zu Datierungen in Inschriften (seltsamerweise wieder als Nr. 2 der Einleitung und danach aufsteigend mit entsprechender Unternummerierung) und Datierungsverfahren der Herausgeber durch Identifizierung in anderen Quellen, archäologische bzw. stratigrafische Indizien (in Melle) (Nr. 2.2.1–2), abgesehen von der Schrift. Mit nur knappen Hinweisen machen die Vorbemerkungen auf spätmerowingische Schrifteinflüsse eigener Qualität aufmerksam, die die erste Phase von drei paläografischen Komplexen vor, in und nach der karolingischen Reform (Nr. 2.2.4) darstellen. Zu einer ausführlichen Definition der karolingischen Reformschrift und ihrer Realisation in verschiedenen Inschriften der Edition kommt es jedoch nicht, also auch nicht zu einer systematisierenden Darstellung des Vorher und Nachher.

Wie die vorangehenden Themen werden auch die technische Seite (Objektformen, Art der Inschriftenherstellung) sehr knapp behandelt (Nr. 3.1), ebenso die Verteilung von Text auf dem Objekt und vorbereitende Maßnahmen durch Linien und Ornamente sowie »Kalligraphie« (Nr. 3.2.1–3); die Trennschärfe zwischen Dekorativem und Zeitstil reicht angesichts hier seltener, aber sonst verbreiteter Schaftverlängerung nicht aus. Mehr Aufmerksamkeit erfahren Beobachtungen zur Komposition der Texte sowohl hinsichtlich der Komponenten wie auch der Verarbeitung von Texten (Versatzstücke, Anleihen) (Nr. 3.3.1–3). Hinweise auf einzelne Inschriften unterstreichen den Nutzen der Grabinschriften für die Erforschung der karolingischen Gesellschaft, der vorstädtischen Kirchen und (selbstverständlich) der Memoria (Nr. 4.1–3), aber auch die Wirkung in die Moderne wie Verluste und Bewegungen von Denkmälern sowie öffentliches Interesse (u. a. die Ausstellung »Une société de pierre«, Melle 2009).

Alle notwendigen Erschließungshilfen durch Listen und Register nach dem Modell der Reihe sind vorhanden6.

Die Gemeinschaftsproduktion von Cécile Treffort und alten und neuen Mitgliedern des Editionsteams des CIFM liefert einerseits nach bewährtem Muster an jene Reihe angelehnte Editionen mit durchweg exzellentem Bildmaterial (inkl. klärender Zeichnungen) und auf bewährtem Editionsniveau, andererseits über die Beschränkungen der Reihe hinausgehende Zusatzinformationen zu einem verdichteten Verständnis des Einzelfalls und ganzer Bestände im wichtigsten, weil reichsten und besterhaltenen Inschriftenbestand der Karolingerzeit. Nach den betreffenden Inschriften wird sich man künftig in diesem Werk umsehen müssen und darin auch für Bestände anderer Regionen reiche Orientierung finden.

1 Die Teile 1–2 zwischenzeitlich schon modernisiert durch Robert Favreau, Les inscriptions de Poitiers (fin VIIIe–début XVIe siècle). Une source pour l’histoire de la ville et de ses monuments, Paris 2017 (Corpus des inscriptions de la France médiévale. Hors-série).
2 Nur 14 von 83 Nummern gehen darüber hinaus, vor allem acht Neufunde in Melle und weniges nach Klärung der Herkunft.
3 Die Liste ist leider nicht ganz vollständig, findet keine systematische Entsprechung in den beiden als verwandt angesehenen Inschriften für Autbertus (Nr. 24) und Balthadus (Nr. 25) und geht auf das fast klassische R nicht ein; auch hätte der ungewöhnliche Nexus litt. – R am Bogen des D – eine Erwähnung verdient gehabt.
4 Anderweitig gibt es viel weniger Material, zudem meist Fragmentarisches (Reims, Nevers) oder Undatiertes (Bourges). Das vorgelegte Material zeichnet sich durch einen hohen Anteil datierter oder datierbarer und vor allem textreicher Inschriften aus.
5 Zum Hadrian-Epitaph S. 10 zwei Hypothesen: hergestellt nicht weit von Tours/Material aus Sablé-de-Sarthe (nach de Rossi 1888), wohl doch aus dem Maas-Tal (nach Ramackers 1964 und Steinanalysen 2005).
6 Das hilft auch gegen einige wenige Verweisfehler wie S. 22, wo Amelius die Nr. 72 statt 79 zugeordnet ist.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rüdiger Fuchs, Rezension von/compte rendu de: Cécile Treffort (dir.), avec la collaboration de Vincent Debiais, Estelle Ingrand-Varenne, Aurore Menudier et Alexandre Gaudin, Épitaphes carolingiennes du Centre-Ouest (milieu VIIIe–fin du Xe siècle), Paris (CNRS Éditions) 2020, 184 p., nombr. ill. (Corpus des inscriptions de la France médiévale. Volume hors-série), ISBN 978-2-271-07003-6, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2021/2, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81802