In der hochlesenswerten, auf seiner 2012 vorgelegten Dissertationsschrift beruhenden Monografie hinterfragt der Straßburger Politologe Karim Fertikh den politologischen und medialen Mythos, der den außerordentlichen Bundesparteitag der SPD in Bad Godesberg im Jahr 1959 umrankt. Er weist darauf hin, dass in Frankreich »Bad Godesberg« einhellig zum Sinnbild für eine gelungene programmatische Modernisierung geworden sei, die es der deutschen Sozialdemokratie erlaubt habe, sich von unnötigem programmatischem Ballast zu befreien und so in der Folge zu einer mehrheitsfähigen Volkspartei zu werden.

Um die Genese und den Wahrheitsgehalt dieses Mythos auszuleuchten, setzt Fertikh auf zwei methodische Neuerungen, die eng miteinander verwoben sind. Die sozialgeschichtliche und diachrone Vorgehensweise erlaubt es ihm, das neue sozialdemokratische Grundsatzprogramm nicht mehr nur als punktuell entstandenes Werk einiger Weniger zu sehen. Vielmehr erscheint es als das Ergebnis eines langwierigen Aushandlungsprozesses zwischen Expertenkommissionen, Parteiführung und Parteitagsdelegierten, die den endgültigen Programmtext nicht nur verabschiedeten, sondern durch die Annahme von Anträgen aktiv mitgestalteten. Schließlich wird die im Nachhinein erfolgte parteiinterne und gesellschaftliche Rezeption als integraler Bestandteil der Schaffung des Mythos »Godesberg« betrachtet.

Fertikh strukturiert seine Monografie chronologisch. In den ersten zwei Kapiteln vergleicht er die Zusammensetzung der Programmkommissionen von 1925 und der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre miteinander. War jene der Weimarer Republik von parteiinternen Intellektuellen geprägt, die meist der Arbeiterschicht entstammten und in den sozialdemokratischen Presseorganen beschäftigt waren, kam es in der Nachkriegszeit zu einer Arbeitsteilung zwischen sozialdemokratischen Parteifunktionären und Intellektuellen. Dies hatte zur Folge, dass die Verfasser der Entwürfe der 1950er-Jahre weniger parteipolitische Entscheidungsträger waren als hauptberufliche Akademiker, womit der programmatische Mainstream des Bildungsbürgertums verstärkt Einzug in das Godesberger Programm hielt. Eine weitere Folge war, dass der Entwurf von 1957 sich mehr als eine wissenschaftliche Abhandlung denn als ein breitenwirksam kommunizierbares politisches Manifest las und damit seine eigentliche Funktion als mobilisierendes Moment verfehlt hätte.

Die beiden folgenden Kapitel sind der Genese des Parteiprogramms gewidmet. Zuerst zeigt Fertikh auf, dass der im Nachhinein ausgemachte programmatische Bruch – namentlich mit dem Marxismus – von den Verfassern nicht intendiert war. Vielmehr ging es ihnen darum, die programmatische Kontinuität mit den Traditionen der Arbeiterbewegung zu wahren und zudem in der Aufklärung und im Christentum zusätzliche Bezugspunkte für sozialdemokratisches Handeln zu suchen. Ferner stellt der 1959 den Delegierten vorgelegte Entwurf das Ergebnis einer »Bastelei« (»bricolage«, u. a. S. 126) dar: Um den Vorschlag der Professorenkommission (»conseil des professeurs«, so Herbert Wehner, S. 113) vermittelbar zu machen, setzte sich der SPD-Vorstand daran, eine stilistische Anpassung (»transstylisation«, u. a. S. 113) vorzunehmen, die – freilich auf Kosten der Stringenz – die Wirkkraft des Programms steigerte.

Dann widmet sich der Politologe Fertikh dem außerordentlichen Parteitag selbst und arbeitet die Modalitäten der tatsächlichen Entscheidungsfindung heraus. Entgegen dem Eindruck, dass Bundesparteitage vor allem der Absegnung von durch die Parteielite bestimmten Parteilinien dienten, sieht Fertikh in Anlehnung an Howard Beckers These des immer gemeinschaftlich gefertigten Kunstwerks (S. 132) in den Delegierten wichtige Co-Autoren des schließlich vom Parteitag angenommenen Programms.

Im letzten Kapitel legt Fertikh überzeugend dar, dass die mythische Verklärung des Parteiprogramms erst über seine nachträgliche(n) Rezeption(en) erfolgte. Er stellt fest, dass das Godesberger Programm 1959 oder in den Folgejahren kaum mediale Aufmerksamkeit fand, was einmal mehr belegt, dass epochale Brüche oftmals eher in der historischen Rückschau ausgemacht werden. Als solch eine Zäsur wurde es erst nach 1968, in den theoriefreudigen 1970er-Jahren – besonders von Vertretern der Neuen Linken – gesehen. Jene Intellektuellen betrachteten es jedoch keineswegs als positiven Meilenstein, sondern als die vermeintlich neoliberale Bankrotterklärung der Sozialdemokratie ob ihres Bruchs mit dem Marxismus. Diese interessengeleiteten Debatten haben sich in der Herausbildung der parteiinternen Flügel niedergeschlagen, zu deren Spielball »Bad Godesberg« wurde.

Karim Fertikhs Monografie ist nicht nur für Forscherinnen und Forscher, die sich mit der deutschen Sozialdemokratie befassen, eine äußerst lohnende Lektüre. Vielmehr ist die innovative methodische Vorgehensweise inspirierend. Ein Parteiprogramm als diachronen Aushandlungsprozess aufzufassen, dessen Rezeption gleichsam sinnstiftend ist, eröffnet nicht nur der Historiografie neue interpretative Möglichkeiten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Étienne Dubslaff, Rezension von/compte rendu de: Karim Fertikh, L’invention de la social-démocratie allemande. Une histoire sociale du programme de Bad Godesberg, Paris (Éditions de la Maison des sciences de l’homme) 2020, 239 p., nombr. ill., graph., tabl. (Bibliothèque allemande) ISBN 978-2-7351-2488-6, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2021/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81988