Als im Juli 2017 die Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg stattfanden, zog es eine kleine Gruppe von Demonstrantinnen und Demonstranten, sich der Symbolik wohl bewusst, in die Elbchaussee, an den Ort in Hamburg, der im öffentlichen Bewusstsein für Reichtum steht. Mit der Betrachtung einer Villa in der Elbchaussee, 1817 erbaut, und der Beschreibung der wechselnden Besitzerinnen und Besitzer sowie der zahlreichen Umbauten beginnt der Sammelband »Reichtum in Deutschland. Akteure, Räume und Lebenswelten im 20. Jahrhundert«, der als Tagungsband1 2019 von Eva Maria Gajek, Anne Kurr und Lu Seegers bei Wallstein herausgegeben wurde. Villenviertel sind einer der halböffentlichen Räume, in denen sich die ansonsten eher abstrakte Kategorie des Reichtums repräsentativ materialisiert, aber auch vermittelt. Luxusdampfer, Stiftungen, Clubs, aber auch die Sendung Cribs auf MTV sind weitere reale und virtuelle Reichtumsräume, die in den insgesamt 17 Beiträgen des Bandes untersucht werden. Zugleich, das wird bei der Lektüre deutlich, sind auch diese Orte dynamisch, unterliegen Veränderungen und sind ein hochkomplexer Raum feiner Binnendifferenzierungen.
Mit der Wiederkehr des riots2 kam auch die Reichtumsforschung auf die Agenda der Geschichtswissenschaften. Der Riot ist in dieser Hinsicht das praktische Äquivalent der Hinwendung zum Reichtum nicht mehr als Kategorie des Kapitals und der Produktion, sondern der Zirkulationssphäre und des Konsums. Die Züge der Gilets jaunes aus den Vororten auf die Prachtboulevards von Paris während des für die dortigen Luxusboutiquen wichtigen Weihnachtsgeschäfts sind der prägnanteste Ausdruck dieser Verschiebung. Spätestens die Ereignisse im Kontext der Krisenentfaltung seit 2007, die im öffentlichen Bewusstsein recht schnell als moralischer Bankrott einer reichen Finanzelite verhandelt wurden, ließen Reichtum – nicht immer fruchtbar – in den Fokus auch einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit rücken. Der Bestsellererfolg des französischen Ökonomen Thomas Piketty, der sein Buch gleich als »Das Kapital im 21. Jahrhundert« etikettierte3, zeigt die – gegenläufig zur wirtschaftlich verlaufenden – Konjunktur, die die Reichtumsforschung seit den 2000er-Jahren hat, und provozierte seinerseits wiederum historische Untersuchungen, die antraten, Pikettys Befunde zu be- oder widerlegen. Recht jung ist der Ansatz in den Geschichtswissenschaften also dennoch, zumindest unter dem Schlagwort der Reichtumsforschung. Auch in den Sozialwissenschaften etablierte diese sich überhaupt erst in den späten 1990er-Jahren als eigenständiger Forschungszweig, wie Dorothee Spannagel in ihrem Beitrag zu Reichtum in sozialwissenschaftlicher Perspektive deutlich macht. Sie führt dies auf ein mögliches Unbehagen an der Beschäftigung mit Reichtum, aber vor allem auf konzeptionelle und methodische Herausforderungen zurück. Während solch ein Unbehagen historische Forschung generell verunmöglichen würde, wenn die Untersuchung eines Gegenstands ein Sichgemeinmachen mit ihm wäre, werden die qualitativen wie quantitativen Schwierigkeiten in dem Tagungsband reflektiert, bearbeitet und mögliche Lösungsansätze präsentiert.
Viele Beiträge machen deutlich, dass Reiche von außen stärker als eine Gruppe wahrgenommen und konstruiert werden, als sie das nach innen tatsächlich sind. Sie verweisen damit allerdings auf ein zentrales, unausgesprochenes Problem der Reichtumsforschung: Sie muss diese Gruppe auch erst als solche zusammenfassen, um sie dann dekonstruieren zu können. Reichtumskritik, antisemitische Projektionen, aber auch eine stets vorhandene Faszination homogenisieren die Gruppe der Reichen, während diese je nach zeitlichem Kontext und Milieu mit sehr unterschiedlichen Legitimations- und performativen Repräsentationspraktiken darauf reagiert.
Martin Lüthe zeigt in seiner intersektional angelegten Untersuchung popkultureller Aneignungspraktiken des Reichtums im afroamerikanischen Hip Hop die Vielschichtigkeit dieses Verhältnisses auf. Sonja Niederacher fordert in ihrem Beitrag, den Blick auf Vermögen um die analytische Kategorie Gender zu erweitern, und zeigt anhand der erzwungenen Vermögensanmeldungen Wiener Jüdinnen und Juden nach dem Anschluss Österreichs auf, wie der gender bias selbst noch in den Restitutionen der 1950er- und 1960er-Jahre strukturell wirkt.
Auch Tabea Bodenstedt weist in ihrer Untersuchung von Erbinnen und Öffentlichkeit darauf hin, dass die Ungleichheitsdiskussion über das Erben zwar ökonomische, nicht aber geschlechtliche Ungleichheiten thematisiert, indem Erbinnen und Erben in der Bundesrepublik ähnlichen Rechtfertigungserwartungen unterliegen, die »real nach Geschlecht differierenden Erbpraktiken« (S. 271) damit jedoch verborgen werden.
Auch nach Innen zeugt der Kosmos der Reichen, das wird in mehreren Beiträgen aufschlussreich herausgearbeitet, von Abgrenzungsbedürfnis, gatekeeper-Mentalität und einer starken Binnenhierarchisierung und -differenzierung. Schon die Frage, was Reichtum ist, wer als reich gilt, kann als unabgeschlossen und dynamisch sowie teilweise perspektivbedingt betrachtet werden. Insofern ist es durchaus nachvollziehbar, einen Sammelband, der sich der noch jungen historischen Reichtumsforschung widmet, nach Akteuren, Räumen und Repräsentationen grob zu gliedern. Dabei verweist schon der Buchtitel, in dem der im Band selbst gleichberechtigte vierte Gliederungspunkt in der Aufzählung fehlt, darauf, dass die Vermessung des Reichtums für die Geschichtswissenschaften einige Schwierigkeiten aufwirft, die einen Überhang an kulturhistorischen Fragestellungen zumindest erklären kann.
Jürgen Finger nimmt dieses Ungleichgewicht in seinem Beitrag zu reichen Lebenswelten in NS-Deutschland zum Anlass, über mögliche Wege einer Rematerialisierung der Ungleichheitsfrage jenseits rein kulturhistorischer oder empirischer Ansätze nachzudenken, um Reichtum als Analysekategorie zu schärfen. Heraus kommt der vielversprechende Vorschlag, den Reichtumsbegriff über den Grad ökonomischer Gestaltungsmacht zu definieren und diese akteurszentrierte Perspektive um »die Frage nach den Gestaltungschancen, die durch den historischen Kontext bestimmt werden, also durch das politische System, soziale Strukturen und ökonomische Prozesse« (S. 81) zu erweitern. Der Zugang über die Gestaltungsmacht durch das eigene Handeln wie über das Handeln anderer könnte darüber hinaus in der Nicht-Identität dieser beiden Gestaltungsformen das emanzipatorische Potential des Reichtums (!) und seiner Erforschung offenlegen, die nach den Bedingungen der Gestaltungsmöglichkeiten des eigenen Lebens ohne Gestaltungsmacht über das nicht-eigene Leben fragt.
In diese Richtung geht auch der Beitrag von Anne Kurr über den Gegensatz privaten Reichtums und öffentlicher Armut und das dahinterstehende Machtverhältnis im Kunstmäzenatentum der Bundesrepublik am Beispiel des Kunstsammlerehepaars Irene und Peter Ludwig. Die Darstellung des Reichtums dieses Beitrags, dem das Zusammendenken von Akteuren und sozialökonomischem Kontext sowie deren kunsthistorisch informierte Verflechtung mit der öffentlichen Auseinandersetzung auf bemerkenswerte dialektische Weise gelingt, muss einer ausdrücklichen Leseempfehlung weichen.
Eine empirische Reichtumsforschung hat dagegen mit dem Paradox zu kämpfen, dass mit der immer genaueren statistischen (und damit steuerlichen) Erfassung von Vermögen durch den Staat die erfassten Reichtümer immer ungenauer werden. Die Praktiken der transnationalen Vermögensanlage untersucht Christopher Kopper am Beispiel des Aufstiegs Luxemburgs zum Anlageplatz deutscher Vermögen und sieht vermögende Menschen als Gewinner einer internationalen Standortkonkurrenz. Torsten Riotte zeigt auf, dass auch für den Hochadel Reichtum im 19. Jahrhundert zur zentralen Identifikationskategorie neben Geburt und Namen wurde und dieser ein starkes Bewusstsein für die Möglichkeiten der expandierenden Finanzmärkte hatte.
In der Internationalisierung des Kapitals habe dieser vor allem einen Schutz vor Krieg und Revolutionen gesehen, um auch danach das standesgemäße Leben absichern zu können. Simone Derix sieht in der doppelten Figur der räumlichen Mobilität, nämlich der reichen Person wie des Reichtums selbst einen »wesentlichen Schlüssel zum Verständnis von Reichtum im 20. Jahrhundert« (S. 180) und schlägt einen Zugriff darauf über die ermöglichenden Infrastrukturen der Mobilität vor, was die verschiedenen Residenzen ebenso einschließt wie die jeweiligen lokalen Berater, Hausangestellten und die Reisen selbst.
Wie ein solcher Zugriff aussehen kann, zeigt der Beitrag von Michael Schellenberger über den Luxusdampfer als »fließenden Kulturraum« (S. 123), als Kaleidoskop reicher Lebenspraktiken wie als Ort des Transfers von Praktiken des Reichtums aus den USA nach Hamburg. Ralf Banken nimmt sich des Problems an, dass es an belastbaren Aussagen über die Entwicklung der Vermögen fehlt. Er zeigt anhand der Vermögenssteuerstatistik überzeugend auf, wie diese Quelle für eine Langfristanalyse fruchtbar gemacht werden könnte. Ihr großes Potenzial sieht er darin, dass sie Auskunft über Vermögensstruktur und räumliche Streuung bietet. Dem Problem der Erfassung von verstecktem Vermögen ist auf diese Weise gleichwohl nicht beizukommen.
Unter diesen Gesichtspunkten ist auch die offene Definition von »Reichtum« nachvollziehbar, die die Herausgeberinnen bewusst wählen, und die sich in dem breiten Themenspektrum der eingereichten Beiträge niederschlägt. Dass dabei auch zeitlich das 20. Jahrhundert und örtlich der deutsche Raum hin und wieder verlassen wird, unterstreicht diesen Eindruck eher und sorgt dafür, dass der Sammelband für die – wie gesagt – junge historische Reichtumsforschung einige spannende Anknüpfungspunkte und Inspirationen bietet.
Dies ist aber auch inhaltlich Ausdruck der von den Herausgeberinnen unterstrichenen zentralen Dichotomie von lokaler Verortung und grenzüberschreitender Mobilität des Reichtums und der Reichen. Wenngleich das Neue der Reichtumsforschung gegenüber älteren Forschungsansätzen wie denjenigen zum Bürgertum, zum Adel und zu Eliten oder auch der Unternehmens- und Konsumforschung nicht immer auf der Hand liegen mag, so liegt vielleicht gerade die Stärke dieses Bands darin, sich des Reichtums als einer Kategorie des öffentlichen Diskurses, kultureller Praktiken und der Repräsentation anzunehmen.
Der Nachteil dieses Ansatzes ist paradoxerweise, dass er trotz seiner analytischen Unschärfe gleichzeitig die Perspektive auf klassische Reichtumsdefinitionen verengt. Diese Verengung ist zwar eine reale, aber die Reichtumsforschung wird dennoch viel gewinnen, wenn sie diese Verengung in ihrer Prozesshaftigkeit aufzeigt und sich daneben ganz anderen Ausprägungen von Reichtum in nicht-westlichen Gesellschaften oder in der Geschichte zuwendet (»Allmende«, »disponible Zeit«, utopische, also über das Bestehende hinausweisende Vorstellungen von Fülle, gesellschaftlichem Reichtum oder des Paradieses etc.) oder auch den vielfältigen historischen Ansätzen nachspürt, Reichtum begrifflich oder praktisch aus seiner realen Kopplung an den Tauschwert und gesellschaftliche Gestaltungsmacht zu lösen. Der »wirkliche Ausgangspunkt«4 der marxschen Untersuchung moderner Gesellschaften ist der Reichtum. Den Reichtum und nicht die Armut als Ausgangspunkt zu nehmen, birgt insofern auch für die Geschichtswissenschaft einiges Potenzial.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Matthias Ebbertz, Rezension von/compte rendu de: Eva Maria Gajek, Anne Kurr, Lu Seegers (Hg.), Reichtum in Deutschland. Akteure, Räume und Lebenswelten im 20. Jahrhundert, Göttingen (Wallstein) 2019, 367 S., zahlr. Abb. u. Tab. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 57), ISBN 978-3-8353-3409-0, EUR 42,00., in: Francia-Recensio 2021/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81989