Die Besetzung des Rheinlandes durch französische, britische, amerikanische und belgische Truppen begann nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und endete 1930. Dazu fand im Juni 2019 eine Tagung in Köln statt, deren Vorträge die Basis des hier besprochenen Buchs bilden.
Die beiden Herausgeber und die Herausgeberin bezeichnen die Besetzung des Rheinlandes als »prekäre Herrschaft«, die »durch die asymmetrische[n] Machtbeziehungen zwischen Besatzern und Besetzten abgesichert« (S. 19) worden sei. Alliierte militärische und administrative Führungskräfte sicherten ihre Macht durch Aushandeln oder Zwang. Hingegen kann das alltägliche Verhältnis der Soldaten zur Zivilbevölkerung nicht auf einen Nenner gebracht werden. Die Aufsätze erschließen ein breites Reservoir an auch emotional gesteuerten Verhaltensweisen. Die sechs Mikrostudien und ein ausführlicher Forschungsbericht orientieren sich an diesen beiden Polen, zumal die Autorinnen und Autoren erfreulicherweise sich auch aufeinander beziehen. Damit wirkt das Buch thematisch wie eine Einheit.
Benedikt Neuwöhner zeigt anhand der britische Besatzung auf (S. 47–73), wie der personell dünne militärische Machtapparat mit der Übernahme der in den Kolonien praktizierten »indirect rule« die Stadt- und Gemeinderäte, Verwaltungen und Polizei instrumentalisieren konnte. Die Besatzer nutzten so die »Expertise und Ressourcen der deutschen Behörden« (S. 60). Separatistische Putschversuche und Plünderungen 1923 bekämpften sie mit der Aufstellung einer paramilitärischen Truppe und schufen damit relative Sicherheit in ihrem Besatzungsgebiet.
Mit erstmals genutzten Quellen aus dem belgischen Verteidigungsministerium kann Charlotte Vekemans die bisher kaum in der Forschung beachtete belgische Besatzungspraxis darstellen (S. 73–96). Im Unterschied zur britischen Herrschaft beklagte ein Teil der deutschen Bevölkerung vielfältige Gewalttaten wie Plünderungen, Wohnungsknappheit wegen der Einquartierung von Offizieren sowie öffentliche Demütigungen. Die Militärgerichtsurteile offenbaren die Einstellung der Besatzer, »die Deutschen zu unterwerfen und die gefallenen belgischen Soldaten zu rächen« (S. 89). Dagegen betonten Bewohner Krefelds den positiven Beitrag der belgischen Armee zur öffentlichen Sicherheit, sodass Vekemans von einem vorläufigen Ergebnis ihrer Studie spricht. Dem politischen Kontext widmet sie sich zum Schluss und betont, dass die belgische Regierung einen Mittelweg zwischen den Interessen der Großmächte Frankreich und Großbritannien und ihren eigenen Zielen gesucht habe, die insbesondere darin bestanden, mit dem Deutschen Reich profitable Wirtschaftsbeziehungen aufzubauen.
Ebenfalls auf bisher unbearbeiteten Quellen fußt der sexualgeschichtliche Beitrag von Mareen Heying über die Kontrolle der Prostitution im belgisch und französisch besetzten Düsseldorf. Die Ängste der Besatzungstruppen und der Düsseldorfer Verwaltung vor der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten führten zu gemeinsamen Aktionen: Prostituierte wurden zwangsweise untersucht und bei positivem Befund in städtische Krankenhäuser eingewiesen. Wenn Soldaten behaupteten, von Prostituierten angesteckt worden zu sein, wurden diese Frauen von der deutschen Polizei oder der jeweiligen Militärpolizei verhaftet. Ob es sich bei den Frauen tatsächlich um Prostituierte handelte oder diese »ein freies Sexualleben führte[n]« (S. 117), bestimmte die deutsche Sittenpolizei. »Die Definitionsmacht über den weiblichen Körper oblag denen, die sich durch ihn infiziert und gefährdet sahen, nicht bei den Frauen selbst« (S. 116). Die spätere nationalsozialistische Regierung nutzte diese Akten, um Prostituierte zu erfassen und in Konzentrationslager zu deportieren.
Die geschichtswissenschaftliche Forschung zur Ruhrbesetzung 1923–1925 gehört zu den zentralen Themen der Außen- und Innenpolitik des Reiches und der Großmächte. Deshalb befasst sich Stefan Goch mit kulturhistorischen Methoden der Wahrnehmungen und Erinnerungen, um die Frage zu klären, ob die Ruhrbesetzung »Teil einer Gewaltgeschichte« der frühen Weimarer Republik war. Damit knüpft er an Forschungen an, zu denen zuletzt Gerd Krumeich einen Beitrag geleistet hat1. Die Besetzung durch belgische und französische Truppen beantworteten die Reichsregierung und fast alle Parteien sowie Gewerkschaften, nicht jedoch die KPD, mit passivem Widerstand, der weitgehend befolgt wurde. Schnell wachsende Arbeitslosigkeit, galoppierende Inflation und Hungerunruhen sowie Sabotageakte zwangen die Reichsregierung allerdings zum Abbruch des Widerstands im September 1923. Die Wiederaufnahme der Produktion ging langsam voran; die von den Besatzern geforderte Kohle wurde abtransportiert, aber auch fachliche Kooperationen kamen zustande. Dieser asymmetrische Machtkampf 1923 blieb im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft präsent. Die Erinnerungen daran wurden von Archivleitern, revanchistisch eingestellten Unternehmensvertretern und Juristen verfasst.
Die Reichsregierung hatte ihren Standpunkt über die Besatzung des Rheinlands von 1918 bis 1930 nicht nur außen- und wirtschaftspolitisch während der großen internationalen Konferenzen vertreten, sondern auch mit Propagandastrategien kommuniziert. Mark Haarfeldt schließt mit seinem flüssig zu lesenden und übersichtlich strukturierten Beitrag das hier bestehende Forschungsdesiderat. Das Reichsinnenministerium schuf mit der Reichszentrale für Heimatdienst und dem nur offiziell privaten Verein Rheinische Volkspflege die Organisationen, die Propagandabroschüren (Bild-Flugblätter, Handzettel, Zeitungen) in den besetzten Gebieten verbreiteten. Die Kampagnen sollten der nationalen Identifikation dienen, weshalb gegen farbige Besatzungssoldaten rassistische und gegen den »Erbfeind« Frankreich historische Argumente in Stellung gebracht wurden. Die »fast überschwängliche Resonanz in der Öffentlichkeit« (S. 156) wich jedoch schnell der Ernüchterung, als im Sommer 1923 der passive Widerstand in den besetzten Gebieten nicht mehr finanzierbar war und die bisherigen Hetzkampagnen Verhandlungen mit der französischen Regierung unmöglich gemacht hatten. Ein Nebeneffekt der gleichwohl erfolgreichen Verbreitung nationaler Stereotype war die indirekte Wahlwerbung für antidemokratische, autoritäre und völkische Parteien.
Daran knüpft der Beitrag von Susanne Brandt an. Sie zeichnet die »Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Westen« (S. 27–46) nach, die sich an Denkmalen festmachen lässt. Der familiären Trauer um die »vergeblichen Opfer« der im Krieg gefallenen Väter und Söhne stand die in Reden und Inschriften von den Betrachtern geforderte Haltung gegenüber, »sich der Opfer würdig zu erweisen und unter Umständen bereit zu sein, ihr Leben zu opfern« (S. 32). Exemplarisch zeigt Brandt diesen Konflikt um individuelle und kollektive Trauer in der öffentlichen Debatte um das Denkmal für das Infanterieregiment 39, die sich zwischen Anhängern der Republik und den Nationalsozialisten entwickelte (S. 35f.)2.
In diesem Buch fehlt leider der Tagungsbeitrag über die amerikanische Besatzung von 1918 bis 1923, die aktuell wieder häufiger erforscht wird3. Die vorgestellten regionalgeschichtlichen Studien würden ohne den historischen Kontext der europäischen und deutschen Geschichte, partiell sogar der Globalgeschichte, wenig aussagekräftig bleiben. Deshalb stellt Martin Schlummer diesen in einem detaillierten Forschungsbericht (S. 167–203) präzise dar und zeigt am Ende des Bandes ausführlich »Perspektiven und Wege der neuen Forschung« auf. Insgesamt leistet dieses Buch so einen wichtigen Beitrag zur Korrelation von Innen- und Außenpolitik der Besatzungszeit und weist zugleich auf Forschungsergebnisse und -desiderata hin.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Dieter Kempkens, Rezension von/compte rendu de: Benedikt Neuwöhner, Georg Mölich, Maike Schmidt (Hg.), Die Besatzung des Rheinlandes 1918 bis 1930. Alliierte Herrschaft und Alltagsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Bielefeld (Verlag für Regionalgeschichte) 2020, zahlr. Abb., 1 Kt. (Schriftenreihe der Niederrhein-Akademie, 12), ISBN 978-3-7395-1212-9, EUR 19,00., in: Francia-Recensio 2021/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.81997