Die breit in der Geschichte der internationalen Beziehungen ausgewiesene Historikerin Laurence Badel, Professorin an der Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne, legt hier ein umfassendes Werk, eine große Synthese vor, wie es sie bisher noch nicht gegeben hat. Nur wenige Vorläufer aus dem englischen Sprachbereich sind hier zu nennen; zumeist hatten Diplomaten selbst Abrisse zur Geschichte und Aufgaben ihrer Profession gegeben. Auch hier sind es vor allem große englischsprachige Autoren von Sir Ernest Satow über Harold Nicolsen bis hin zu Henry Kissinger (dessen Titel »Diplomacy« (1994) aber wenig mit dem hier verfolgten Ansatz zu tun hat). Aber es gibt auch bedeutende Franzosen wie etwa Gabriel Hanotaux oder Jules Cambon, die über Regieren und Diplomatie nachdachten; Wilhelm Grewe ist auf deutscher Seite zu nennen. Bedeutend waren seit dem 19. Jahrhundert Juristen in der Definition des Feldes; dass die Rolle dieses Berufsstandes seit Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt neue Bedeutung erreichte, wird übrigens leider nicht thematisiert.
Laurence Badel selbst hat zahlreiche Vorarbeiten vorgelegt und zieht nun eine Summe. Wissenschaft oder Kunst? ließe sich fragen – und jede einzelne Zuordnung träfe nicht ihren methodischen Bezugspunkt, den sie mit Kulturgeschichte im »practical turn« bezeichnet. Es geht ihr dabei weniger um Politik, sondern um die Bedingungen und Normen des aktiven Handelns von Diplomaten – und damit um die Diplomatie oder besser wie im Titel gesagt: die Vielzahl der Diplomatien, ein im Deutschen ungebräuchlicher Pluralbegriff. Das Buch selbst ist wie ein Handbuch gegliedert, ja trägt in manchem auch einen solchen Charakter, wenn Kategorien gebildet, entfaltet und durch empirische Beispiele anschaulich belegt werden.
Insgesamt finden sich fünf Teile, die wiederum in 13 Kapitel unterteilt sind. Das Buch beansprucht, vom 19. bis zum 21. Jahrhundert zu handeln, betont jedoch die antiken Ursprünge und greift des Öfteren in die frühe Neuzeit zurück, z. B. zum Westfälischen Frieden. Besonders wichtig ist aber, dass Badels Darlegungen bis an die Gegenwart heranreichen. Die Diplomatie in der europäischen Integration stellt das zentrale und finale Ziel der Darlegungen dar. Dadurch ist auch der dezidiert europäische Fokus bedingt, der andere Kontinente zumeist ganz über die dortigen Aktionen der europäischen Diplomaten erfasst. Erst im letzten Kapitel sieht die Autorin aufgrund der Unabhängigkeit vieler neuer Staaten die europäische Diplomatie im Weltmaßstab wie in einem Netzwerk agieren; zuvor waren es die Taten der Europäer in außereuropäischen Regionen.
Die Autorin verortet Diplomatie in traditioneller Form zwischen Kunst und Beruf und beschreibt eine unvollkommene Professionalisierung. Das mag ein Grund sein, weshalb im diplomatischen Corps Frauen bislang sehr selten vertreten waren, aber es gab doch einige eindrucksvolle Ausnahmen. Ein österreichischer Außenminister soll angesichts einer weiblichen Botschafterin gesagt haben, da würde sich Metternich im Grabe drehen (S. 96). Die Zeiten sind hoffentlich vorbei.
Kenntnisreich wird die Ausbildung der Netze von Botschaftern, dann auch der konsularischen Dienste abgehandelt. Hinzu kommt die »Paradiplomatie«, ein im Deutschen nicht geläufiger Begriff: Diese wird von einer Vielzahl Personen betrieben. Das können Vertreter von Bundesländern sein, Bürgermeister, Parlamentarier, aber auch Intellektuelle, Gewerkschafter, die als »sehr politisch« eingeschätzten Think Tanks oder humanitäre Stiftungen, neuerdings auch die NGOs, die zunehmend eigene Foren der Kommunikation gebildet hätten. Dieser Personenkreis scheint mir unscharf zu sein; er wird hierzulande eher als seit dem 19. Jahrhundert wachsender Transnationalismus abgehandelt, gilt nicht mehr unbedingt als Teil nationaler Diplomatie, sondern signalisiert gerade die Überschreitung und Überlagerung herkömmlicher Staatlichkeit. In dieser anderen Terminologie liegt ein skeptischer Einwand gegen den von Laurence Badel in den Vordergrund gerückten nationalstaatlichen Ansatz.
Eigene Kapitel sind der Kultur- und Wirtschaftsdiplomatie gewidmet. Zu ersterer gehört auch die Informationspolitik, für deren Erfolg im europäischen Rahmen die Verfasserin gerade bis in die jüngste Zeit hinein keine Chancen sieht. Staatliche Wirtschaftspolitik förderte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Handel, führte zur Entwicklungshilfe, entwickelte aber auch das Instrument von Embargos und Sanktionen; sie umfasste erneut auch private Akteure, in den letzten Jahrzehnten etwa den beispielhaft aufgeführten Ostausschuss der deutschen Wirtschaft. Auch hier sieht Badel Defizite der europäischen Integrationspolitik.
Besonders spannend finde ich den 100-seitigen Teil zur Entstehung der heutigen europäischen Diplomatie und ihrer Institutionen je aus den nationalen Strukturen heraus. Das reicht von den Rechtsgrundlagen über die Hierarchisierungen von großen und kleinen Staaten bis hin zur Entwicklung der Brüsseler Zentrale: dort findet man »nouveaux formats de l’entre-soi« (S. 335) und landet schließlich bei der gemeinsamen europäischen Diplomatie und samt einer gemeinsamen Ausbildung.
Der letzte Hauptteil »Negocier avec l’autre« ist den Beziehungen Europas zur außereuropäischen Welt gewidmet und entfaltet den Umgang mit dessen »alterité« seit dem 19. Jahrhundert. Dabei sei es zum Zusammenprall unterschiedlicher Vorstellungen gekommen, weil Nichteuropäer sich geweigert hätten, die Beziehungen zu den Europäern »sur la base de leur vision du système international« aufzunehmen (S. 378). Das ist sehr freundlich formuliert und wird der imperialen und kolonialen Expansion kaum gerecht; die Gewalthaftigkeit, auf der dieser Ethnozentrismus beruhte, wird nur angedeutet. Kulturgeschichtlich spricht man hierzulande eher im Anschluss an Edward Said von Orientalismus, ein natürlich auch in Frankreich bekannter Begriff.
Ein eigenes Kapitel widmet Badel dem Umgang mit Gewalt, revolutionärer oder anderer, von Jefferson über Lenin bis in die Gegenwart. Es geht dabei auch um die Schutzbedürftigkeit der Diplomaten und die Frage, wie diese andere gegen Gewalt schützen könnten. Prävention, aber auch stille Diplomatie werden hier als Werkzeuge genannt. Auch hier kommt die Verfasserin wieder auf die Entwicklung der EU bis in die Gegenwart zu sprechen, wenn sie u. a. fordert, diese dürfe nicht so schüchtern sein, sondern müsse um kulturelle Vielfalt und interkulturellen Dialog im Weltmaßstab werben; die UNO zeige sich dazu angesichts ihrer festgefahrenen Strukturen etwa im Sicherheitsrat nicht in der Lage.
Laurence Badel hat ein an Kategorien und Informationen reiches, ja überbordendes Buch vorgelegt, das in manchem eher einem additiven Handbuch als einer üblichen Monographie ähnelt. Sie entwickelt kluge und bedenkenswerte Überlegungen zu vielen Verästelungen dessen, was sie als kulturelle Praktiken der Diplomatie fasst. Zudem verarbeitet sie eine überwältigende Fülle an zum Teil entlegener Literatur und Aufsätzen, die sie immer wieder illustrierend zitiert. Die Lektüre bringt so immer wieder Funde zutage, die erhellend sind, bisweilen aber auch ein wenig sprunghaft und beliebig gereiht wirken, wenn es nur um ein besonders hübsches Zitat ging.
Überblickt man den Ansatz Badels als Ganzes, so ließe sich Diplomatie vielleicht noch stärker aus der Struktur der Monarchien und der Höfe als aus der der Nationalstaaten herleiten. Die Rolle der Gewalt wird bei Badel benannt, aber zu den Verhältnissen von Diplomatie und Krieg – dessen Vorbereitung, Führung und Beendigung – könnte ich mir weitere differenzierte Beobachtungen vorstellen. So einleuchtend es ist, bis an die Gegenwart heranzugehen und zukunftsweisende Vorschläge für Europa in der Integration zu machen, so schade ist doch die weitgehende Begrenzung auf Europa und seine Diplomatie für frühere Jahrhunderte; hier haben andere Autoren gerade zur weit über die »alterité« hinausgehenden Fehlkommunikation Europas mit der Welt einiges gezeigt. Dennoch, mit »Diplomaties européennes. XIXe–XXIe siècle« liegt eine wissenschaftlich ebenso innovative wie zu weiterem Nachdenken anregende Studie sui generis vor, für die Laurence Badel großer Dank gebührt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jost Dülffer, Rezension von/compte rendu de: Laurence Badel, Diplomaties européennes. XIXe‑XXIe siècle, Paris (Presses de Sciences Po) 2021, 539 p., ISBN 978-2-7246-2690-2, EUR 35,00., in: Francia-Recensio 2021/2, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.2.82085