Die späten 1960er Jahre und ihre studentischen Revolten sind ein viel beforschtes Thema. Nicht zuletzt 2018, anlässlich des 50. Jubiläumsjahres von 1968, verzeichnete die Verlagsbranche eine große Zahl von Neuerscheinungen zum Thema1. Oft handelt es sich um Fallstudien zu den Bewegungen, einzelnen Akteurinnen und Akteuren oder Örtlichkeiten. Ben Mercer trägt mit seinem Werk »Student Revolt in 1968. France, Italy and West Germany« eine Stimme zu diesem Kanon bei, indem er die drei westeuropäischen Keimzellen des Protests mit besonderem Fokus auf Demokratisierungs-Bestrebungen in den Blick nimmt. Der promovierte Historiker ist Dozent an der Australian National University in Canberra und legt mit dieser, seiner ersten, Monographie ein Kondensat seiner Forschungsinteressen vor.

Zum Ziel setzt sich der Autor die Analyse der 1960er Jahre als experimentelles Labor verschiedener Visionen politischer, sozialer und kultureller Demokratisierung (S. 2). Dabei möchte er entmythologisieren und keine Geschichte von Ikonen schreiben. Das allein ist noch nichts Neues, doch die Auseinandersetzung mit der symbolischen Wirkung von 1968 aus erinnerungsgeschichtlicher Perspektive ist ein legitimes Anliegen. Mercer definiert die Ereignisse (im Kontrast zur Mythologisierung) als »spezifische Manifestation von langfristigen Entwicklungen, durchsetzt von Kontingenz« (S. 9). Die Auswahl der analysierten Universitäten in Nanterre, Trient und West-Berlin ist ebenfalls nicht neu, wird aber klug begründet. Alle drei Orte vereint die »Rhetorik des Antiimperialismus, des Antiautoritarismus, der Autonomie und der Demokratie« (S. 6) sowie die Radikalisierung der Proteste nach Konflikten mit der Polizei, wobei die gemeinsamen Belange je nach Kontext in anderen Konfigurationen zutage traten.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten wird untersucht, welche Rolle Demokratisierungsprozesse im Bereich der Kultur und Bildung spielten. Darauf folgt im zweiten Teil ein Überblick über die Konstruktion der Politik des Aufstands, woraufhin im dritten Teil die Fallstudien in den Vordergrund rücken und die Krise der jeweiligen Universität. Mercer webt ein gut nachvollziehbares Netz, indem er im Verlauf der einzelnen Kapitel immer wieder alle drei Orte zueinander in Bezug setzt.

Mit der Einleitung liefert Ben Mercer eine hilfreiche Analyse der Rezeption von »1968«. Jede und jeder mit Interesse an Erinnerungsgeschichte, kann sich auf dieser Basis ein differenziertes Bild über die verschiedenen Aspekte der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion zu 1968 machen. Das erste Kapitel steht dann im Zeichen des Wegs »zur Explosion«. Die Universitäten waren mit schnell ansteigenden Studierendenzahlen konfrontiert. Die Idee der »Massenuniversität« versprach die Erfüllung des Ideals unbeschränkter sozialer Mobilität und zugleich wirtschaftliche Prosperität durch gut ausgebildete Arbeitskräfte.

Doch stellte der erweiterte Zugang zu höherer Bildung nur einen Pfad der Demokratisierung im Sinne der damaligen Modernisierungsbestrebungen dar – neben Lehrmethoden, den curricularen Inhalten, Autoritätsverhältnissen, der Leitung der Universität oder der Definition von Kultur selbst. Über diese differenzierten demokratischen Visionen entbrannte der universitäre Konflikt. Das Fach Soziologie, das als eigenständiger Studiengang relativ jung war, bot einen prädestinierten Diskussionraum für solche Visionen, wie in Kapitel zwei deutlich wird, da die Disziplin sich die Themen der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu eigen machte. Zugleich verstanden sich Soziologinnen und Soziologen als Repräsentantinnen und Repräsentanten des politischen Wandels, wobei sich in diesem Fach mehr als sonst irgendwo die mit der Massenuniversität verbundenen Hoffnungen und Enttäuschungen vereinten.

Die Unzufriedenheit mit dem Stand der Demokratisierung der Universität schlug sich also in mannigfaltigen Kritikpunkten nieder. Demgegenüber widmet sich das dritte Kapitel der Frage, inwiefern die Demokratisierungsideen im Bereich der »Hochkultur« Ausdruck fanden. Diese Kultur zeigte sich nach bisherigen Verständnis in besonderer Weise in der Bildungseinrichtung Universität. Nach Auffassung der antiautoritären Protestierenden war allerdings keine »Kultur« einer/eines einzelnen besser als die einer/eines anderen; mit der Aneignung der freien Rede gehe auch die Macht einher, demnach galt »Sprechen = Revolution«. Mit der massenhaften Produktion von Taschenbüchern, der »paperback revolution«, wurde Wissen günstig zugänglich; zugleich entfachte sich eine Diskussion um den Abfall der Werte der »Hochkultur«.

Kritikerinnen und Kritiker beriefen sich auf einen Unterschied zwischen traditioneller Kultur und Bildung einerseits und moderner »Information« andererseits. Die Wirkung der Taschenbuchwelle sieht Mercer jedoch als Neudefinition, ja Entsakralisierung von Kultur an (S. 85f.). Das vierte Kapitel über die Demokratisierung des Wissens schließt eng an das vorherige an und hätte inhaltlich besser abgegrenzt werden können. Das Buch als Medium öffnete zwar die Tür zu radikalen transnationalen Öffentlichkeiten, die ʾ68 den Weg bereiteten und verkörperte eine kulturelle Liberalisierung, doch schien es gleichzeitig angesichts der Masse des Wissens seine inhaltliche Relevanz einzubüßen. Im Leseakt entzog man sich kulturellen Hierarchien, doch nicht allen, denn vollkommene Freiheit von (autoritativer) Interpretation hätte auch Angriffe auf die eigenen Interpretationen der Vordenkerinnen und Vordenker der Proteste ermöglicht.

Mercer verschiebt nun im zweiten Teil den Blick auf die Politik der Revolte und wendet nach einigen allgemeinen Ausführungen seine Fragestellgen jeweils auf die drei Universitäten an. Warum sich eine verstärkte Politisierung der Jugend aller drei Länder (Frankreich, Italien und Westdeutschland) noch nicht vor, sondern erst mit den Protesten vollzogen habe, wird im fünften Kapitel untersucht. Den Grund sieht Mercer darin, dass es keinen Raum für sie gegeben habe. Die Protestierenden forderten, die Politik an das reale Leben zurückzubinden. Da die Parteien ihre demokratischen Versprechen nicht einlösten, hätten die Studierenden nur noch die Möglichkeit gesehen, sich eigene autoritätsfreie Räume zu schaffen – mittels Provokation und Protest (S. 129).

In Kapitel sechs wird die »Krise der Repräsentation« untersucht für eine Phase, in der sich Studierende als weitgehend machtlos wahrgenommen hatten. Während die Besetzung der Universitätsgebäude noch als Erfüllung eigener demokratischer Ziele erschien (also Abschaffung überkommener Führungs- und Repräsentationsstrukturen und Ablehnung der hierarchischen traditionellen Parteien), bildeten sich in der Protestbewegung selbst einzelne männliche charismatische Führungspersönlichkeiten heraus. Was sollte also aus den studentischen Bewegungen resultieren? Mercer resümiert bündig: »Die Forderungen nach Autonomie und Demokratisierung scheiterten auf der Ebene der Institutionalisierung« (S. 154). Studierende wollten den Ort Universität zu einem politischen machen, doch die Verwaltung und die Fachbereiche sahen ihn eher als privilegierten und von der Gesellschaft (und ihrer Politik) entkoppelten Bereich an.

Kapitel sieben zeigt, wie sich der Protest auf kreative Weise der Sprache und des Raumes bemächtigte und so Ungehorsam gegenüber den abgelehnten tradierten Werten praktizierte. Den Studierenden in ihrer neu gefundenen Subjektivität war wichtig, dass ihre Stimme gehört wurde, weshalb sie in Provokationen ein bevorzugtes Mittel sahen. Um zu sprechen, bat man nicht um das Wort, man entzog es jemandem anderen, bspw. Professoren, aber auch abweichenden oder weiblichen Stimmen2. Dem Ideal eines freiheitlichen Dialoges konnte so nicht immer entsprochen werden. Dennoch attestiert Mercer den Akteurinnen und Akteuren, dass sich so eine neue autoritätsskeptische und nach Authentizität strebende Hochschulelite bildete, deren Hauptinstrument die Sprache war (S. 174).

Im dritten Teil rückt Mercer dann die drei Fallbeispiele und ihre jeweilige lokale „Krise“ in den Fokus der Aufmerksamkeit. Von der Praxis der Redefreiheit an der Freien Universität in West-Berlin handelt Kapitel acht. Dem Narrativ des Antagonismus von Demokratie und Autorität und der Forderung von Redefreiheit durch die Protestierenden verlieh das historische Gewicht des Nationalsozialismus Nachdruck. Eine Machtverschiebung hätten die Aufständischen in Berlin mit ihren Besetzungen und Diskussionen zwar nicht erwirkt, dennoch hätten sich einige Praktiken fest etabliert: die Kritik des Curriculums, Unterbrechungen von Vorlesungen, die schonungslose Kritik an Professoren und Professorinnen und eine allgemeine Entsakralisierung der Autorität (S. 204).

In Trient entstand die Bewegung aus einer weniger virulenten Ausgangssituation heraus als an den beiden anderen Orten, so Mercer in Kapitel neun. Die ersten Konflikte entbrannten über der Forderung nach Einführung eines Studienabschlusses in Soziologie. Während die Universität als System der Zustimmung der Studierenden bedurfte, waren für die studentischen Bewegungen die Überreaktionen bspw. der Polizeikräfte Katalysatoren des Protests. In Trient hatte die Bewegung den größten Erfolg in ihrem Kampf um Autonomie (S. 228) und langfristig sorgten Besetzungen für die Etablierung einer neuen politischen Aktionsform, mit der studentische Ziele realisiert werden konnten (S. 207).

Das letzte Fallbeispiel, die Universität in Nanterre, wird im zehnten Kapitel behandelt. Hier entbrannten die Proteste am Streit über die Macht über den Raum. Schon bald richtete sich der Unmut auch gegen die Regulierung anderer Bereiche studentischen Lebens und führte zu Forderungen nach Redefreiheit und der Demokratisierung der Universität auf allen Ebenen. In Debatten um polizeiliche Repressionen gegen die Proteste wurden Ambivalenzen sowohl innerhalb der Bewegung als auch im Universitätskorpus sichtbar. Mercers Stärke, Ambivalenzen aufzuzeigen, kommt hier besonders gut zur Geltung.

Das Ergebnis der Proteste in Nanterre und später auch in Paris an der Sorbonne war eine grundlegende und umfassende Neubewertung von Leben und Gesellschaft durch die Ergreifung der freien Rede der Protestierenden (S. 253), wobei der Autor den Transfer der Ideen der Protestierenden in das tagtägliche Leben aufzeigt. Auf ein Phänomen, das die universitäre Bildung im Sinne der Protestbewegungen neugestalten sollte, geht Mercer schließlich im elften und letzten Kapitel ein: die »kritischen Universitäten« in West-Berlin und Trient. Mit dem Hinterfragen nahezu aller klassischen Organisationformen und Funktionen der Universität bedurfte es nun der Definition und Herstellung einer idealen Universität, um die Theorie der Demokratisierung mit der Praxis zu vereinen. Aber ebenjene Praktiken, die die studentische Bewegung anwachsen ließen und Protest beförderten, schlossen eine Institutionalisierung aus. Für Mercer war der studentische Protest eine produktive, autoritätskritische und antielitäre Bewegung, die Redefreiheit durchsetzte, doch war sie keineswegs geeignet, eine Universität zu führen (S. 284).

Wenngleich Lesenden an wenigen Stellen in diesem Teil der zeitliche Faden verloren gehen kann, beweist Mercer in diesen Kapiteln sein Können einer angemessenen und ausgewogenen Quellenarbeit. Klug leitet er aus seinen Erkenntnissen ab, welche Gedankengänge und Ereignisse der 1960er Jahre Spuren hinterlassen haben und sich im Diskurs um Repräsentation, Partizipation und das Aushandeln von Autorität und Repression etabliert haben. Seine Schlussfolgerungen speisen sich aus der intensiven Beschäftigung mit Chronologien und Diskursverläufen. Indem Mercer kein Schwarzweißbild zeichnet, sondern stetige Ambivalenzen der Geschichte des studentischen Protests aufzeigt, trägt er einen wichtigen Teil zur Entmystifizierung von ʾ68 bei.

Ben Mercers Buch sei damit all jenen empfohlen, die keine fundamentale Neuinterpretation der Ereignisse und ihrer Wirkung, sondern einen soliden und sowohl methodisch als auch analytisch einwandfrei ausgeführten Überblick zu Westeuropa suchen, der gewinnbringend Ambivalenzen aufzeigt, dekonstruiert, dabei aber nicht relativiert oder banalisiert.

1 Zu erwähnen sind an dieser Stelle stellvertretend Richard Vinen, 1968. Der lange Protest. Biografie eines Jahrzehnts. München 2018 und Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018. Vgl. zu diesen und anderen Titeln den Literaturbericht von Silja Behre, Regards croisés sur les 50 ans de »1968« en France et en Allemagne, in: Francia 46 (2019), p. 319–330, DOI: 10.11588/fr.2019.0.68981.
2 Inwiefern der Aspekt Geschlecht in den Protestbewegungen eine Rolle spielte und Frauen in den Bewegungen sich im Verhältnis zur »männlichen charismatischen Führung« verstanden und verhielten, diskutiert Ben Mercer differenziert auf den S. 166 bis 170.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Agnes Sperber, Rezension von/compte rendu de: Ben Mercer (ed.), Student Revolt in 1968. France, Italy and West Germany, Cambridge (Cambridge University Press) 2019, X–302 p. (New Studies in European History), ISBN 978-1-108-48448-0, GBP 109,35., in: Francia-Recensio 2021/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83468