Obwohl die einzelnen Beiträge thematisch überwiegend im vorigen Jahrhundert angesiedelt sind, wirkt dieser Sammelband bemerkenswert aktuell. Er handelt vom Verhältnis westeuropäischer Sozialisten und Sozialdemokraten zum Staat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominierte eine kritische Sicht, spätestens in der zweiten Hälfte, als es ihnen gelungen war, den Staat zu ›erobern‹ und zu demokratisieren, herrschte eine im Großen und Ganzen positive Sicht vor. Mittlerweile sind sozialdemokratische und sozialistische Parteien in vielen Ländern Westeuropas politisch marginalisiert, und auch der Wohlfahrtsstaat hat viel von seinem Glanz verloren. Die Gewissheit, dass der Staat der Bevölkerung Schutz gewähren könne, ist nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung und der gezielten neoliberalen Attacken geschwunden; rechtspopulistische Kräfte profitieren von dieser Entwicklung, indem sie sich als »einzige Verteidiger« der Interessen des »kleinen Mannes« inszenieren. Auf diese Herausforderungen müssen Sozialisten und Sozialdemokraten reagieren, zumal in Zeiten, in denen die Covid-19-Pandemie die zentrale Bedeutung des Staates erneut ins öffentliche Bewusstsein gerückt hat.
Mit ihrem Band verfolgen die Herausgeber – beide als Historiker und Sozialwissenschaftler an der Pariser Hochschule Sciences Po tätig –, das Ziel, die weitverbreitete reduktionistische, ja unrichtige Sichtweise des Verhältnisses zwischen westeuropäischem Sozialismus und der Idee, Form und Verwendung des Staates zu entkräften: »It challenges what remains a dominant interpretation of the left’s propensity for state intervention in political and journalistic debates« (S. 2). Sie haben die Beiträge der insgesamt 19 Autorinnen und Autoren zu drei Themenkomplexen zusammengefasst: Erstens, »what were the different ideological approaches to the state developed within the socialist and social democratic parties, and how can one explain their early acculturation to the modern state?«; zweitens, »what have they done with the state and what has the state done with socialists?«; und drittens, »how do the reconfigurations of the state, which is no longer the repository but rather the principal administrator of political authority, affect European socialists, and how do socialists in their turn deal with them?« (S. 4).
Im ersten Teil rekapitulieren Stefan Berger, Alain Bergounioux, Tommaso Milani und Yohann Aucante am deutschen, französischen, belgischen und skandinavischen Beispiel die Versuche der sozialistisch-sozialdemokratischen Parteien, den Staat zu »erobern« und zu »demokratisieren«. Während die SPD sich in zunehmendem Maße mit dem Nationalstaat des Kaiserreichs identifizierte, favorisierten die Parteien anderer Länder eher Formen eines kommunalen Sozialismus (»municipal socialism«, S. 30) und die Genossenschaftsbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die Demokratisierungsbemühungen einen neuen Höhepunkt, diesmal mit einem starken Akzent auf der wirtschaftlichen Sphäre. Spätestens in den 1970er Jahren schwand das Vertrauen der sozialistisch-sozialdemokratischen Eliten in die Steuerungskapazitäten des Staates, und in den 1980er Jahren verdrängte das Credo der Modernisierung das der Demokratisierung.
Im zweiten Teil widmen sich Kevin Theakston, Bernd Faulenbach, Laure Machu und Matthieu Tracol, Juan Francisco Fuentes, Kjell Östberg sowie Luc Rouban der wichtigen Rolle der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes als Vermittler und Vermittlerinnen zwischen Parteien und Staatsapparat: »Their adherence to the state is crucial in a democratic regime to push through an ambitious programme of economic and social democratisation – based in particular on achieving full employment, raising wages and administering a generous welfare state« (S. 121). Diese lange Zeit enge Beziehung begann in den Jahren 2000 bis 2010 zu erodieren, und es bleibt die Frage, ob diese Wählergruppe, die als eine Garantin demokratischer Verhältnisse fungiert habe, auf Dauer zu anderen politischen Kräfte wie den Rechtspopulisten abwandern könnte.
Im dritten Teil fragen Mathieu Fulla, Sebastian Voigt, Maria Mesner, Jenny Andersson und Kjell Östberg, Emmanuelle Avril, Marc Lazar sowie Gerassimos Moschonas mit Blick auf Frankreich, Deutschland, Österreich, Schweden, Großbritannien, Italien und Griechenland nach den Veränderungen kapitalistischer und staatlicher Strukturen. Dabei wird insbesondere die große Anpassungsfähigkeit der sozialistisch-sozialdemokratischen Parteien an den sozioökonomischen und politischen Wandel deutlich. Dass ungebremste Flexibilität allerdings auch negative Folgen haben kann, zeigt Voigt am Beispiel der »Agenda 2010«, die den Wohlfahrtsstaat dauerhaft unterminiert und dazu geführt habe, dass sich viele Stammwähler und -wählerinnen von der SPD abgewandt hätten (S. 300).
Der Band besticht durch seinen weiten zeitlichen, geografischen und inhaltlichen Zugriff, durch den transnational vergleichenden Ansatz und die Bemühungen um eine präzise Begrifflichkeit. Auch die kurzen Einleitungen, welche die Herausgeber den drei Themenkomplexen jeweils vorangestellt haben, verdienen als Service für Leserinnen und Leser großes Lob. Dass die Beschäftigung mit den westeuropäischen Sozialisten und Sozialdemokraten und ihrem Verhältnis zum Staat, ungeachtet der momentanen Depression, in der sich einige einstmals bedeutende Parteien befinden, keineswegs überflüssig ist, verdeutlichen die kompakten und inspirierenden Beiträge dieses Sammelbandes in überzeugender Manier.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Mathieu Fulla, Marc Lazar (ed.), European Socialists and the State in the Twentieth and Twenty-First Centuries, Cham (Springer International Publishing) 2020, XXIX–400 p., 4 ill. (Palgrave Studies in the History of Social Movements, 1), ISBN 978-3-030-41540-2, EUR 103,99., in: Francia-Recensio 2021/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83477