Mit dem hier zu besprechenden Sammelband zeigt sich ein weiteres Mal in aller Deutlichkeit, dass die Diplomatiegeschichte als wichtiger Bestandteil der Erforschung der internationalen Beziehungen gegenwärtig ein ausgesprochen lebendiges und dynamisches Forschungsfeld ist. Die sogenannte Neue Diplomatiegeschichte hat in den letzten Jahren eine grundlegende Erneuerung dieses Forschungsgegenstandes bewirkt, die bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist. Dementsprechend zielt die vorliegende, insgesamt 28 geschichtswissenschaftliche Beiträge und ein Vorwort von Lucien Bély umfassende Aufsatzsammlung erkennbar darauf ab, die Forschungstendenzen der »nouvelle histoire diplomatique« weiterzuentwickeln und mit neuen Akzenten zu versehen.

Im Zentrum steht dabei die Figur des Diplomaten – eine Bezeichnung, die sich erst im 19. Jahrhundert in Gänze herausbildete, – deren historische Genese für den langen Zeitraum vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert hinein unter dem leitenden Gesichtspunkt seiner individuellen und beruflich-fachlichen Identität(en) analysiert wird. Ein zentraler Faktor in diesem Kontext ist die kritische Auseinandersetzung mit der traditionellen These einer wachsenden Professionalisierung und Institutionalisierung des diplomatischen Metiers. Dieser Aspekt durchzieht den Band nahezu leitmotivisch und erfährt hier eine multiperspektivische Durchdringung, die so manche diesbezügliche teleologische Anschauung gründlich dekonstruiert.

Die in französischer bzw. englischer Sprache vorgelegten Studien sind drei Teilen zugeordnet, die primär den Leitbegriffen »image«, »métier« und »action«/»position sociale« gewidmet sind, gleichwohl aber zahlreiche inhaltliche Verflechtungen aufweisen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die breite zeitliche, räumliche und thematische Anlage des Bandes, die – positiv formuliert – ein weitläufiges Panorama eröffnet, anders herum gewendet aber einen vergleichsweise heterogenen Gesamteindruck hinterlässt. Bezeichnend hierfür ist, dass in dem syntheseartigen kurzen Abschlussbeitrag von Stefano Andretta wiederholt hervorgehoben wird, dass es schwerfalle, einen roten Faden zu benennen, der die unterschiedlichsten Befunde der Beiträge vereint. Die Herausforderungen, die damit verbunden sind, bezeichnet Andretta wertschätzend als »agréable Golgatha intellectuel« (S. 422).

Positiv hervorzuheben ist jedenfalls, dass sich der Band auszeichnet durch eine lesenswerte Mischung aus bereits bekannten, gut erforschten Themen, Räumen und Personen einerseits sowie bislang eher vernachlässigten thematischen Gesichtspunkten, Akteurinnen und Akteuren andererseits. So finden sich die einschlägigen, vielfach herangezogenen zeitgenössischen Autoren (zum Beispiel Hotman, Wicquefort und Callières) oder bereits intensiv untersuchte Diplomaten (etwa Bongars, Spanheim oder auch Kaunitz) ebenso wie Personen, die in der bisherigen Forschung eher ein Schattendasein fristeten.

Einen sehr deutlich ausgeprägten Schwerpunkt bildet hierbei die französische Diplomatie, aber auch das Heilige Römische Reich deutscher Nation ist vergleichsweise stark vertreten. Zudem ist das Bemühen erkennbar, auch Untersuchungen einzubeziehen, die thematisch jenseits des west- und mitteleuropäischen Raums in engerem Sinne zu verorten sind. Bedeutende diplomatische Posten und Persönlichkeiten sind ebenso vertreten wie eher zweitrangige Stätten sowie Akteurinnen und Akteure. Auch die von der jüngeren Forschung hervorgehobenen drei zentralen Aufgaben des frühneuzeitlichen Diplomaten – Verhandeln, Repräsentieren, Informieren – sind in der Gesamtschau aller Beiträge in angemessener Weise vertreten, ebenso die einschlägigen Typisierungsversuche der neueren Forschung, wie zum Beispiel der Typus des humanistisch gebildeten »diplomate savant« oder Hillard von Thiessens Modell einer »Diplomatie vom type ancien«, das nun auch erkennbar von französischen Autorinnen und Autoren rezipiert wird.

Insgesamt gesehen korrespondiert die Heterogenität der behandelten Themen, Personen, Räume und Zeiten mit dem pluralen Gesamteindruck, den man bei der Lektüre der Beiträge erlangt: Die – wie auch immer zu definierende – Identität des Diplomaten ist nur schwer definitorisch in den Griff zu bekommen. Ausgestattet mit multiplen Interessen und Rollen, agierte er chamäleonhaft auf wechselnden Bühnen, die ihm Kenntnisse, Fähigkeiten und Eigenschaften abverlangten, die in dem langen Untersuchungszeitraum noch nicht im modern verstandenen Sinne einer regulierten professionalisierten Ausbildung vermittelt wurden. Was vielmehr vorherrschte, waren in aller Regel plurale, situativ veränderliche An- und Herausforderungen, die in der longue durée keineswegs eine lineare Entwicklung nahmen, welche gewissermaßen zwangsläufig auf das Telos des modernen Berufsdiplomaten hinausliefen.

Der Band ist zwar nicht bebildert, dafür aber ausgestattet mit einer Bibliografie, Abstracts und einem nützlichen Personenregister. Zum Register ist jedoch zu erwähnen, dass Stichproben ergeben haben, dass einige Personen verwechselt wurden (Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg und König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, S. 61 und 64) oder versehentlich doppelt (Kurfürst bzw. König Friedrich III./I., S. 468), ohne Seitenzahlen (Dominik Andreas Kaunitz, S. 469) oder gar nicht aufgenommen wurden (zum Beispiel Kaiser Leopold I. und Herzog Georg Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg, vgl. S. 64).

Insgesamt gesehen ist der Herausgeberin Indravati Félicité aber zu bescheinigen, dass sie mit dem vorliegenden Sammelband eine materialreiche Aufsatzsammlung vorgelegt hat, die die geschichtswissenschaftliche Erforschung von Diplomatie und Diplomaten – und zwar vor allem im Hinblick auf die Epoche der Frühen Neuzeit – in instruktiver Weise bereichert. Zwar wurde das Leitthema Identität nicht von allen Autorinnen und Autoren ins Zentrum ihrer Beiträge gerückt. Aber welcher Sammelband kann das schon von sich behaupten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Rohrschneider, Rezension von/compte rendu de: Indravati Félicité (dir.), L’Identité du diplomate (Moyen Âge–XIXe siècle). Métier ou noble loisir?, Paris (Classiques Garnier) 2020, 490 p. (Rencontres, 471), ISBN 978-2-406-10464-3, EUR 42,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83487