Die Herausgeber Werner Freitag und Martin Scheutz leiten ihren Band zur Geschichte des städtischen Waffenbesitzes mit einem erstaunlichen Gegenwartsbefund ein: Nicht allein die USA, sondern auch Österreich und Deutschland gehören statistisch »zu den relativ stark bewaffneten Nationen.« (S. 11) Dies gründe in der Vorstellung eines Zusammenhangs von Bürger- und Waffenbesitzrecht, die ihren Ursprung, wie die acht Beiträge des Bandes zeigen, in der »alteuropäischen Stadt« (S. 10) des Heiligen Römischen Reiches und der Schweizer Eidgenossenschaft hat.
Für die spätmittelalterlichen Stadtbürger, die ihre ständische Freiheit oft in Konflikten mit ihren Stadtherren erkämpfen oder erkaufen mussten, symbolisierte ihre Bewaffnung Unabhängigkeit und Wehrhaftigkeit: Das Bürgerrecht verpflichtete zur Beteiligung an der kollektiven Verteidigung der Stadt, sodass Harnisch oder Rüstung, Stangen-, Hieb- und Stichwaffen – seit dem 16. Jahrhundert zunehmend auch Schusswaffen – vorgehalten werden mussten. Das Recht, Waffen zu tragen, setzte die Bürger zudem symbolisch von unterbürgerlichen Schichten ab.
Das von B. Ann Tlusty konstatierte kriegerische Ethos der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft1 erweist sich dabei über die Jahrhunderte weg als sehr beständig. Obwohl der Nutzen bürgerlicher Waffen mit der Professionalisierung des Krieges ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sank, blieben Schützengesellschaften und Zeughäuser »als Nukleus von städtischer Memoria« (S. 14) weiterhin von Bedeutung. Doch konnte die Verfügbarkeit von Waffen im Konfliktfall auch leicht zur Eskalation der Gewalt führen. So galt es stets, die Balance zwischen Waffenkultur und Waffenkontrolle zur Sicherung von Frieden und Ordnung in der Stadt zu suchen.
Aufbauend auf einer Sektion des Historikertages in Münster 2018 bietet der Band einen Überblick über die Waffengeschichte im deutschen Sprachraum vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Die in vier Themenfelder geordneten Beiträge fußen auf vielfältigen Quellenbeständen und behandeln symbolische wie materielle Orte der Waffen und ihres Gebrauchs in der Stadt.
Teil I ist den »Waffen in den Händen der Stadtbürger« gewidmet. Regula Schmid untersucht anhand von Kontrolllisten, (Haushalts-)Inventaren und Testamenten, wie Bürger in spätmittelalterlichen Schweizer Städten das in den Satzungen geforderte Vorhalten von »Harnisch und Gewehr« (S. 24) in ihren Haushalten umsetzten. Die dauerhafte Präsenz des Kriegsgeräts schuf demnach eine starke symbolische Verbindung zwischen der Bürgerfamilie und der zur Selbstverteidigung gerüsteten Stadtgemeinde.
Michael Prokosch und Martin Scheutz nehmen österreichische Städte in der Frühen Neuzeit in den Blick. Im Gegensatz zu anderen Städten listen die »Bürgerbücher« (S. 38) in Innsbruck die bei der Einbürgerung in die Stadtgemeinde vorgelegten Waffen auf. Zumindest symbolisch spielte aber die Wehrfähigkeit auch in kleineren Landstädten im Osten Österreichs eine Rolle, wie die Aktivitäten bürgerlicher Schützengesellschaften beweisen.
Über »serielle Gerichts- und Kriminalquellen« (S. 63) nähern sich Hiroyuki Saito und Gerd Schwerhoff den Praktiken des Waffengebrauchs in Köln und Leipzig, wo der reichsstädtische Rat und die sächsischen Herzöge als Landesherren Regelungen zur Waffenkontrolle einzuführen versuchten. Die Justizakten illustrieren deren Verletzung, besonders in Wettbewerbssituationen: Ehrverletzungen eskalierten hier oft in Drohungen und z. T. in Tätlichkeiten mit Blankwaffen. Kriminalstatistisch waren junge Männer, oft Handwerksgesellen oder Studenten, dabei Hauptakteure.
Als potenzieller Unruhefaktor galten also nicht nur Bürger, die ihre Waffen in Konflikten einsetzten, sondern gerade auch Akteure, die einer anderen Gerichtsbarkeit als der städtischen unterstanden. Hier schließt Teil II zum Waffengebrauch von Geistlichen und Juden an.
Enno Bünz zeigt das Potential der inzwischen auch digital erschlossenen Akten des päpstlichen Pönitentiarieregister für alltagshistorische Untersuchungen. Die Bußbehörde erteilte Dispense für Kleriker, die z. B. wegen Beteiligung an einer Gewalttat kirchenrechtlich »irregulär […] und zur weiteren Amtsausübung unfähig« (S. 82) geworden waren. Ihre Eingaben belegen sowohl den Einsatz von Alltagsgegenständen (Krüge, Stöcke, Arbeitsgeräte und sogar Backwaren) als auch von Hieb-, Stich- und Feuerwaffen durch Kleriker im deutschsprachigen Raum. Sie rechtfertigten sich häufig damit, dass es regional üblich sei, Waffen zur eigenen Verteidigung mitzuführen. Bis ins 16. Jahrhundert hinein hatten Geistliche also durchaus Anteil an der städtischen Waffenkultur.
Dasselbe galt, so argumentiert Markus J. Wenninger, für die aschkenasischen Juden des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Aus unterschiedlichsten Quellen trägt er Beispiele für waffentragende, verteidigungsbereite und sogar fehdeführende Juden zusammen. Damit wendet er sich gegen den in der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts vorherrschenden »Mythos« (S. 98) eines umfassenden rechtlichen Gebots der »Wehr- und Waffenlosigkeit« (S. 101) von Juden.
Teil III belegt, dass sich Versuche der »Waffenkontrolle« und der räumlichen Konzentration von militärischem Gerät im Laufe der Frühen Neuzeit keineswegs nur gegen Randgruppen oder Unterschichten richteten. Die Beiträge von Holger Th. Gräf und Martin Scheutz zeigen, wie entstehende Territorialstaaten versuchten, städtische Bewaffnung und Einrichtungen (wie Pulvertürme und Zeughäuser) in ihrem Sinne zu kontrollieren. Der militärische Bedeutungsverlust städtischer Schützengesellschaften und die Musealisierung der Zeughäuser seit dem Ende des 18. Jahrhunderts belegen den langfristigen Erfolg dieser Maßnahmen.
Doch erinnert Dagmar Ellerbrocks Beitrag, der für sich Teil IV (»Waffengebrauch im 19. Jahrhundert«) bildet, daran, wie schwierig ein staatliches Waffenmonopol durchzusetzen war. An der fest etablierten »Waffenkultur« (S. 190) der in Schützengesellschaften und Bürgerwehren organisierten Bürger scheiterte letztlich das Verbot privater Waffen, das König Friedrich I. von Württemberg 1809 im Zuge seiner Modernisierungspolitik und der Errichtung eines stehenden Heeres erließ. Schon während der Diskussion um die 1819 verabschiedete landständische Verfassung wurde das Waffenrecht vehement zurückgefordert und die Verbote wurden in der administrativen Praxis zunehmend gelockert. Schließlich gestattete das württembergische Waffenrecht von 1853 Waffenbesitz und -gebrauch für »althergebrachte Gewohnheiten« (S. 203).
Gerade die Geschichte des Auswanderungslandes Württemberg weist tatsächlich auf kontinentaleuropäische historische Wurzeln der US-amerikanischen Waffenkultur hin. Dass aus dem »Pulverfass« der alteuropäischen Stadt dennoch ein weitgehend befriedeter Raum entstehen konnte, hängt mit obrigkeitlicher Kontrolle, aber auch mit Praktiken (juristischer wie informell-sozialer) Selbstregulierung zusammen. Das reiche Material des Bandes zeigt Anknüpfungspunkte für weiterführende Fragen auf, z. B. wie die Praktiken vor Ort mit Staatsbildungsprozessen jenseits der territorialen Ebene zusammenwirkten.
Die vielfältigen Beiträge bieten insgesamt aus stadthistorischer Perspektive einen hervorragenden Überblick über eine langfristig wirksame materielle und symbolische Kultur der Waffen. Ein Verzeichnis ausgewählter Literatur, die in mehreren Beiträgen verwendet wird, sowie ein Orts- und Personenindex machen den Band auch als Einführung und Referenzwerk gut nutzbar. Darüber hinaus verbindet der Band Waffengebrauch und ‑kontrollversuche überzeugend mit größeren konzeptionellen Entwürfen europäischer Geschichte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Anke Fischer-Kattner, Rezension von/compte rendu de: Werner Freitag, Martin Scheutz (Hg.), Ein bürgerliches Pulverfass? Waffenbesitz und Waffenkontrolle in der alteuropäischen Stadt, Wien, Köln, Weimar (Böhlau) 2021, 227 S., 2 Diagr., 19 Ill. (Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, 102), ISBN 978-3-412-52108-0, EUR 40,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83488