Die Niederlagen der Geschichte und die damit einhergehenden Brüche in der Geschichtsschreibung wurden selten so dezidiert thematisiert wie in Simon Karstens Buch »Gescheiterte Kolonien. Erträumte Imperien, eine andere Geschichte der europäischen Expansion 1492–1615«. Wie der Titel vermuten lässt, fokussiert sein Werk nicht auf eine Ereignisgeschichte des Scheiterns verschiedener Kolonien oder auf einen Versuch, diese kolonialen Unternehmungen als das Scheitern dieser kolonialen Unternehmungen zu widerlegen, sondern auf eine Analyse derjenigen Quellen, die sich mit gescheiterten Kolonien in den Amerikas befassten, und denen lange Zeit (zu) viel Vertrauen geschenkt und Authentizität zugeschrieben wurden. Im Zentrum des Buches stehen gescheiterte koloniale Projekte diverser Akteure auf beiden Seiten des Atlantiks sowie die zeitgenössische Wahrnehmung und Deutung dieser Unternehmungen. Allerdings muss der Begriff »Scheitern« einer kontextabhängigen Beurteilung unterzogen werden, denn in diesem Zusammenhang meint er ein koloniales Projekt, dessen Ergebnis nicht den vorformulierten Erwartungen entsprach.

Karstens stellt in seinem Werk fest, dass »Scheitern« im kolonialen Kontext nur dann verwendet wurde, wenn es sich um eine Zuschreibung des Scheiterns anderer Kolonialmächte handelte. Das eigene Scheitern wurde von historischen Akteuren häufig umschrieben bzw. eine negative Darstellung vermieden und der Wissenserwerb sowie die erreichten Leistungen wurden bewusst hervorgehoben. Dem »Scheitern« wurde bereits zur damaligen Zeit, d. h. im 16. und 17. Jahrhundert, eine duale Funktion zugeschrieben, der Verweis auf das Scheitern erlaubte a) einen synchronen Vergleich mit zeitgleich erfolgreichem Aufbau iberischer Kolonialreiche und b) einen diachronen Vergleich mit später erfolgtem erfolgreichen Aufbau eines Kolonialreiches. Karstens stellt sich in diesem Kontext die Frage, welche Relevanz diese gescheiterten kolonialen Projekte nun hatten. Und für wen?

Durch imaginierte Kolonien, die auch als »erträumte Imperien« bezeichnet werden können, gelang es immer wieder, Personen wie Berater, Investoren und Siedler zu finden, die weitere Expansionsunternehmungen auf der Suche nach einem westlichen Weg nach Asien durchführten, was schließlich zur Umsetzung dieser Vorhaben und in den Fortbestand der Kolonien mündete. »Der Glaube an einen möglichen Erfolg motivierte Herrscher, Projekten ihren Schutz zu verleihen, und Investoren, ihr Vermögen einzusetzen« (S. 514). Durch die Überzeugung, dass Kolonien entstünden, entstanden auch Narrative, die über Jahrhunderte lang beständig waren und erst heute von der Forschung nach und nach dekonstruiert werden.

In Abgrenzung von Spanien und durch den Kolonialisierungsprozess selbst entstanden verschiedene Identitäten wie »die Engländer« und »die Franzosen«. »Dies konnte durch Imagination einer kolonialen Heilsgemeinschaft vor Gott, durch Ausgrenzung bestimmter Gruppen, durch Hervorhebung bestimmter Tugenden ebenso wie durch Abgrenzung von als fremdartig dargestellten Indigenen einerseits oder stereotyp als Feindbild inszenierten ›Spaniern‹ andererseits geschehen« (S. 20). Wissen aus der Neuen Welt wurde überwiegend in Zeitschriften oder als Übersetzung veröffentlicht und dadurch an ein breites Lesepublikum weitergegeben. Wissen über die Neue Welt entstand also vor allem durch einen grenzübergreifend geführten Diskurs und eine transatlantische Vernetzung über die kolonialen Grenzen hinaus. Die kolonialen Projekte der verschiedenen Mächte wurden aber auch von Darstellungen des Ozeans und der Amerikas beeinflusst. Weil diese häufig rezipiert wurden, spielten diese Erfahrungen für zukünftige Vorhaben eine bedeutende Rolle. Bis zum Jahr 1615 scheiterten alle kolonialen Projekte bis auf Quebec und Jamestown.

Mit der Intention, eine ausführliche Darstellung über die Quellen zu gescheiterten Kolonien sowie deren Rezeption zu geben, wurde ein gutes Überblickswerk zu den spanischen, portugiesischen, englischen und französischen kolonialen Projekten sowie jene des Heiligen Römischen Reiches geschaffen. Dabei hat der Autor die verschiedenen Absichten der Kolonialmächte sowie die Erfolge bzw. das Scheitern von Kolonien deutlich erfasst. Das Werk ist ideal, um einen differenzierteren Zugang zur Geschichtsschreibung über die Kolonialisierung zu erhalten. Der Untersuchungszeitraum ist sinnvoll gewählt, da die europäische, transatlantische Expansion ab 1492 mit Spanien und Portugal ihren Lauf nahm. Ebenso nachvollziehbar ist das Ende des Werkes mit dem Jahr 1615, da zu Beginn des 17. Jahrhunderts andere Kolonialmächte, wie z. B. die Niederlande und Schweden, die amerikanische Bühne betraten und auch dauerhafte Besiedlungen errichten konnten.

Es wird in Karstens Werk auch klar, dass die indigenen Bevölkerungen eine bedeutende Rolle für das Errichten von Kolonien einnahmen, da ohne ihre Hilfe europäische Niederlassungen auf Dauer nicht hätten überleben können. Außerdem konnten die Indigenen die Kolonisten für ihre eigenen Zwecke nutzen und »wünschten daher, gemeinsam mit ihnen gegen ihre indigenen Feinde Krieg zu führen« (S. 516). Unter den wenigen erwähnten indigenen Akteurinnen und Akteuren wird auch Pocahontas angeführt, die der Autor nach ihrer Taufe Rebecca Wolfe nennt (S. 254). Die gängigere Schreibweise ist Rebecca Rolfe, da sie John Rolfe heiratete. Zum besseren Verständnis wäre deshalb eine Erläuterung für Leser und Leserinnen sinnvoll gewesen. Das Sympathisieren mit »einfachen Kolonisten« in seinem Fazit sowie eine mangelnde Fokussierung auf die eigentlichen Leidtragenden, die Indigenen, muss ebenfalls erwähnt werden, wobei Karstens mehrfach betont, dass die europäischen Stützpunkte und Siedlungen ohne die Unterstützung der Indigenen nicht überleben hätten können (S. 521).

Die kritisierten Punkte können jedoch den positiven Gesamteindruck des Buches nicht trüben. Der Aufbau des Buches in vier Hauptkapitel ist sinnvoll, sodass sich Leserinnen und Leser dank eines erkennbar roten Fadens bei der Lektüre stets zurechtfinden. Auch der grenzüberschreitende Ansatz ist positiv hervorzuheben, da er erlaubt, sowohl die kolonialen Akteure als auch ihre Projekte selbst detailliert darzulegen, wodurch wiederum der reziproke Einfluss der europäischen Mächte klar zum Ausdruck kommt. Alles in allem bietet Karstens mit seinem Buch einen gelungenen Zugang zu den Anfängen der kolonialen Expansion. Er schreibt keine lineare Geschichte, wodurch seine Arbeit einen wertvollen Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit europäischer Expansion und Kolonialismus leistet und damit auch zu einer reflexiven Aufarbeitung der Geschichte beiträgt.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Stefanie Steiner, Rezension von/compte rendu de: Simon Karstens, Gescheiterte Kolonien – erträumte Imperien. Eine andere Geschichte der europäischen Expansion 1492–1615, Wien, Köln, Weimar (Böhlau) 2021, 619 S., ISBN 978-3-205-21207-2, EUR 55,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83489