Zu Anfang lässt Pauline Pujo den Hallenser Gymnasialrektor Johann Peter Miller Kinder beim Spiel beobachten. Es ist 1761, im Siebenjährigen Krieg, und sie spielen Krieg. Ihr Spiel, so zeigt Pujo, war ebenso vom (welt)politischen Geschehen beeinflusst wie die zeitgenössischen Geschichtsdarstellungen für ein nicht-gelehrtes Publikum, insbesondere jene für Kinder und Jugendliche.
Pujo blickt in ihrer Studie auf den deutsch- und den französischsprachigen europäischen Raum. Gerade die pädagogisch ausgerichteten, oft breit rezipierten Geschichtsdarstellungen hätten zur Popularisierung historischer Konzepte beigetragen. Da sie oft Kompilationen gewesen seien, ließen sich an ihnen auch besonders Bedeutungsverschiebungen und Neukontextualisierungen ablesen. Allerdings unterschied die Aufklärungsgeschichtsschreibung nicht streng zwischen populärwissenschaftlicher und wissenschaftlicher Darstellung. Pujo zieht auch eine Reihe gelehrter Autoren heran.
Mit der »histoire croisée« (Verflechtungsgeschichte) greift sie auf ein Konzept zurück, das auf die Analyse wechselseitiger Verbindungen und einen multiperspektivischen Zugang zielt. Wie in Claire Gantets und Markus Meumanns Band zum französisch-deutschen Gelehrtenaustausch liegt ein Fokus auf den Transferprozessen und dem Austausch der zugrundeliegenden Netzwerke1. Pujo fragt nach jenen Umdeutungen und Aneignungen, die den Austausch prägten, auch über den deutsch-französischen Raum hinaus.
Zwei Darstellungsweisen von Geschichte seien typisch: historische Exempel (»recueils d’exemples«) und Übersichtstabellen (»tableaux synoptiques«). Diese überkommenen Formen der Geschichtsdarstellung, denen Pujo jeweils einen der beiden großen Teile ihrer Arbeit widmet, seien zeitgenössisch reaktualisiert und in den Dienst einer zunehmend politisierten Geschichtsvermittlung gestellt worden. Die Geschichte habe eine Gesellschaft zukünftiger, besserer Staatsbürger formen sollen. Statt einer theologischen Ausrichtung dominierte damit eine politisch und moralisch motivierte Pädagogik, wenngleich weiterhin konfessionell geprägte Lehrbücher erschienen. Die historischen Beispielsammlungen und Tabellen, die sich auch in Darstellungen kombiniert finden, waren jedoch nicht zwingend mit einem bestimmten pädagogischen Ansatz gekoppelt; zugleich konnten sie für verschiedene historisch-politische Positionen nutzbar gemacht werden, sowohl im Sinne der Volksaufklärung als auch für republikanisch-nationale Ziele.
Pauline Pujo wendet sich gegen die These Reinhart Kosellecks, wonach für die Zeit um 1800 eine Abkehr von der Geschichte als Lehrmeisterin und Beispiel für die Gegenwart konstatiert werden könne. Die Idee der historia magistra vitae sei nun für die Ausbildung der Persönlichkeit der Heranwachsenden genutzt worden. Exempla hätten die Moral und die Vernunft fördern und zugleich die Emotionen ansprechen sollen. Eine maßgebliche Rolle sei hier neben Rousseau Johann Peter Miller zugekommen, der eine seiner Publikationen als »Historisch-moralische Schilderungen zur Bildung eines edlen Herzens in der Jugend« (Bd. 1, 1755) übertitelte. Das Ziel einer »forme de participation politique« durch die Partizipation am Gemeinwohl (S. 72) konnte, wie bei Thomas Abbt, in den Dienst des Patriotismus gestellt werden (wobei nicht im Fokus steht, dass dies für Abbt bis zum »Tode für das Vaterland« (1761) gehen sollte), in den Dienst der aufgeklärten Monarchie und der Nationalerziehung. Unter dem Aspekt der Exempla betrachtet Pujo auch die Nutzung von Bildern – in Johann Matthias Schröckhs »Weltgeschichte für Kinder« (vier Teile, 1779-1784) hätten sich die kindlichen Leser etwa mit den abgebildeten Kindern identifizieren können.
Tabellen, ob in Form genealogischer Bäume, von Chronologien, Datenlisten oder anderem, versteht Pujo als Basis elementaren Wissens und fragt nach der mit ihnen verbundenen Ordnung der Dinge. Anhand des Kartografen und Historikers Edme Mentelle und seiner Rezeption im deutschen Sprachraum verfolgt sie auch die Rolle der Geografie für die Geschichtsschreibung. Schließlich geht es um den Einfluss der Statistik und der Staatswissenschaft mit ihren tabellenartigen Präsentationen. In ihnen spiegele sich ein wissenschaftlich-pädagogisches Verständnis, nach dem die Produktion und Weitergabe von Wissen auf dessen Systematisierung beruhe.
Pauline Pujo fragt auch nach der Rolle der zeitgenössischen Schüler und Schülerinnen (beziehungsweise älterer Leser und Leserinnen) und ihren Möglichkeiten, sich eigene Urteile zu bilden. Die Form der Tabelle habe es erlaubt, ein Urteil aus der Distanz zu fällen und deutende Verbindungen herzustellen; stärker als Benjamin Steiner2 betont Pujo also die Offenheit der tabellarischen Geschichtsordnungen. Mit den Exempla habe sich insofern ein emanzipatorischer Gehalt verbunden, als sie zur Diskussion anregen sollten. Für August Ludwig von Schlözer, der Kinder zur Teilnahme an gesellschaftlichen Debatten befähigen wollte, war dafür in seiner »Vorbereitung zur WeltGeschichte für Kinder« (1779/1789) unabdingbar, auf »zudringliche[s] Moralisieren« zu verzichten. Die Überzeugungen »aber […] von der natürlichen Gleichheit aller Menschen, vom Glücke der bürgerlichen Gesellschaft, vom Wert der Erziehung, vom Unsinn der Intoleranz«, wollte er ihnen »ans Herz und Zwerchfell legen«3. Bei ihm, der für seine Tochter Dorothea und für all jene schrieb, die Kinder unterrichteten, war die Bürgerin mit im Blick.
Die Autorin unternimmt eine genaue Arbeit an den Texten und fragt nach biografischen Einflüssen, Praxiserfahrungen und Lektüren, nach der Genese von Positionen. Ebenso geht sie der Nutzung verschiedener Publikationen in einzelnen Bildungseinrichtungen nach. Der Transfer sei zumeist von französischen Werken ins Deutsche erfolgt, mit Ausnahme von jenen, die für deutschsprachige Schüler und Schülerinnen zu Ausbildungszwecken ins Französische übersetzt wurden. Erst das zunehmende nationale Denken habe den Zuschnitt der Heroenkataloge verengt. Bei der Rezeption der französischen Literatur hätten französische Gouvernanten eine wesentliche Rolle gespielt.
Pauline Pujo zeigt die gleichwohl vielfach engen Verbindungen zwischen der Geschichtsschreibung in beiden Sprachen und wie die beiden Sprach- und Kulturräume übergreifendes historisches Wissen entstand. Sie verdeutlicht, dass die Historiografie dieser Zeit keineswegs zunehmend narrativ angelegt war und gleichwohl moderne Ansätze barg. Es ist eine Hochschätzung der Aufklärungsgeschichtsschreibung, die in der französischen Forschung lange auf geringes Interesse gestoßen war, und der sich hier entwickelnden Formen der politischen Meinungsäußerung. Indirekt steht in ihrer Studie auch die Frage nach der heutigen Nutzung von Geschichte im Raum, nicht zuletzt in der Geschichtsdidaktik.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Astrid Ackermann, Rezension von/compte rendu de: Pauline Pujo, Une histoire pour les citoyens. Étude franco-allemande (1760–1800), Bordeaux (Presses universitaires de Bordeaux) 2019, 451 p. (Mémoires vives), ISBN 979-10-300-0475-5, EUR 24,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83491