Louis-Antoine de Saint-Just (1767–1794), Abgeordneter im französischen Nationalkonvent und einer der führenden jakobinischen Politiker während der Französischen Revolution in den Jahren 1792–1794, ist im Gegensatz etwa zu Robespierre, Danton, Marat und Mirabeau in der Forschung deutlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden. Während in den letzten Jahrzehnten, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und England, immerhin mehrere Biografien aus unterschiedlicher Perspektive zu Saint-Just veröffentlicht worden sind1, ist sein publizistisches, literarisches und rhetorisches Oeuvre wenig bekannt und bisher nur in Ansätzen erforscht. Dies ist umso erstaunlicher, als die über 1200 Seiten umfassenden, im Jahre 2004 bei Gallimard erschienenen Œuvres complètes von Saint-Just2 die überragende literarische, rhetorische und publizistische Produktivität des bei seinem Tode auf der Guillotine im Juli 1794 erst 26-jährigen Politikers Saint-Just augenfällig belegen.

Das vorliegende Buch von Anne Quennedey, die derzeit eine kritische Edition seines Gesamtwerks vorbereitet, ist aus ihrer 2013 an der Sorbonne im Fach Lettres Modernes vorgelegten Dissertation hervorgegangen und behandelt erstmals umfassend die Reden Saint-Justs in der Convention nationale, vor allem unter rhetorischen, aber auch unter politischen, wirkungs- und rezeptionsästhetischen sowie literarischen Gesichtspunkten. Sie schließt hiermit an mehrere – leider bisher viel zu wenige und zu partielle – Arbeiten zur parlamentarischen Rhetorik in der Französischen Revolution an, unter denen insbesondere die Forschungen und Publikationen von Patrick Brasard3 und Jacques Guilhaumou in Frankreich sowie die – bereits einige Jahrzehnte zurückliegenden – Studien von Hans Ulrich Gumbrecht und Brigitte Schlieben-Lange in Deutschland zu erwähnen sind4.

Aus der Fülle der Ergebnisse der vorliegenden präzisen, materialreichen und sehr gut dokumentierten Studie von Anne Quenneday seien vor allem zwei hervorgehoben, die bemerkenswert erscheinen und der weiteren Forschung zur politischen Rhetorik während der Französischen Revolution (und in anderen historischen Kontexten) wichtige Perspektiven zu eröffnen vermögen. Hervorzuheben ist zunächst die im ersten Teil der vorliegenden Studie vorgenommene Verknüpfung zwischen der »Theorie des Sublimen« und der Rhetorik von Saint-Just. Die Analysen basieren hier in erster Linie auf der sehr detaillierten Auswertung des »Traité du Sublime ou du merveilleux dans le discours« des griechischen Philologen Cassius Longinus (212–272 n. Chr.), der 1674 von Boileau aus dem Griechischen ins Französische übersetzt wurde. Ergänzend werden rhetorische Texte und Reden antiker Autoren herangezogen, u. a. von Cicero, Aristoteles, Seneca und insbesondere Demosthenes, die im 18. Jahrhundert in französischer Übersetzung vorlagen und häufig – auch für Saint-Just – als Vorlagen und Inspirationsquellen eigener Reden dienten.

Allerdings werden von der Verfasserin hier nicht die zeitgenössischen Übersetzungen antiker Autoren berücksichtigt und analysiert, ebenso wenig die rhetorischen Handbücher des 18. Jahrhunderts (wie der »Traité des études« [1726–1728] von Charles Rollin). Die in der Einleitung etwas apodiktisch formulierte Entscheidung, Longinus’ Werk statt der rhetorischen Handbücher des 18. Jahrhunderts zu berücksichtigen5, ist nicht unproblematisch und blendet leider auch die Frage aus, welche rhetorische Ausbildung Saint-Just während seiner Schulzeit am Collège des Oratoriens in Soissons in den Jahren 1779–1785 durchlief und welche Werke ihn prägten.

Die zweite, sehr interessante und im zweiten Teil der vorliegenden Studie verfolgte Analyseperspektive betrifft die Untersuchung der rhetorischen Praxis von Saint-Just, insbesondere seiner Reden vor dem Nationalkonvent. Neben der formalen und inhaltlichen Struktur seiner Reden und der ihnen zugrundeliegenden rhetorischen Muster werden akribisch seine Physionomie, seine Gestik und Mimik, seine Intonation, das Timbre und der Tonfall seiner Stimme sowie die Wirkung seiner Reden auf die Zuhörer herausgearbeitet. Die Grundlage hierfür bilden die Archives parlementaires sowie die Presse der Jahre 1792–1794, die häufig, und gelegentlich in sehr detaillierter Form, auf die nonverbalen Codes der Konventsredner sowie die Wirkung ihrer Reden auf die Zuhörer eingehen, indem sie u. a. Publikumsreaktionen wie Zwischenrufe und Applaus wiedergeben. Der Verfasserin gelingt es in beeindruckender Weise, hierdurch nicht nur die Gründe für die eklatanten rhetorischen Erfolge (»succès oratoires éclatants«, S. 315) von Saint-Just und seinen kometenhaften Aufstieg in den Jahren 1792–1794 herauszuarbeiten, sondern auch anhand einer Serie detailliert analysierter Redesituationen die interaktive Dynamik von Redediskurs, nonverbalen Kommunikationsregistern und Publikumsreaktionen geradezu modellhaft zu analysieren.

Sehr anregend sind auch die im ersten Kapitel des zweiten Teils entwickelten Überlegungen zu methodischen Problemen der Rekonstruktion rhetorischer Oralität6, die in Verbindung mit Ansätzen der historischen Pragmalinguistik und der historischen Diskursanalyse, wie sie u. a. Brigitte Schlieben-Lange und Jacques Guilhaumou entwickelt haben, eine fruchtbare Weiterentwicklung erfahren könnten.

1 Albert Ollivier, Saint-Just et la force des choses, Paris 1966; Albert Soboul, Saint-Just, Paris 1988; Jean-Pierre Gross, Saint-Just. Sa politique et ses missions, Paris 1976; Norman Hampson, Saint-Just, Oxford 1991; Jörg Monar, Saint-Just. Sohn, Denker und Protagonist der Revolution, Bonn 1993; vgl. auch die originelle Darstellung des renommierten Psychologen Hans von Hentig, Terror. Zur Psychologie der Machtergreifung. Robespierre, Saint-Just, Fouché, Wien 1970.
2 Antoine-Louis-Léon de Saint-Just: Œuvres complètes, éd. par Anne Kupiec et Miguel Abensour, Paris 2004. Es handelt sich hier nicht um eine kritische Edition.
3 Cf. u. a. Patrick Brasard, Paroles de la Révolution. Les Assemblées parlementaires, 1789–1794, Paris 1988.
4 Von Jacques Guilhaumou wird lediglich sein Kongressbeitrag »Rhétorique et antirhétorique à l’époque de la Révolution française« (1988) erwähnt; Hans Ulrich Gumbrichts wegweisendes Buch: Funktionen parlamentarischer Rhetorik in der Französischen Revolution. Vorstudien zu einer historischen Textpragmatik, München 1978 wird nicht rezipiert. Die Studien der Sprachwissenschaftlerin Brigitte Schlieben-Lange, Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung, Stuttgart, Berlin, Köln u. a. 1983 und des Historikers und Diskursanalytikers Jacques Guilhaumou, L’Avènement des porte-parole de la République, 1789–1792. Essai de synthèse sur les langages de la Révolution française, Villeneuve-d’Ascq 1998 (Communication), werden gleichfalls nicht erwähnt.
5 Anne Quennedey, L’Éloquence: »Nous avons d’abord choisi de nous référer à l’ouvrage du Pseudo-Longin plutôt qu’aux traités sur l’éloquence du XVIIIe siècle«, S. 8.
6 Ibid., »Chapitre I. Aspects fondamentaux de l’éloquence orale et problèmes liés à la reconstitution de celle de Saint-Just«, S. 187–205.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hans-Jürgen Lüsebrink, Rezension von/compte rendu de: Anne Quennedey, L’Éloquence de Saint-Just à la Convention nationale. Un sublime moderne. Préface par Jean Dagen, Paris (Honoré Champion) 2020, XVI–537 p. (Moralia, 23), ISBN 978-2-7453-5425-9, EUR 78,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83492