Die Vormoderne stellte sich in Europa als besonders »unruhiges« Zeitalter dar, wie die politik- und sozialgeschichtliche Forschung der letzten vier Jahrzehnte dargelegt hat: Bürgerkriegsartige Unruhen im Zeitalter der Religionskriege, verschiedene Episoden ständischen Widerstands im 17. Jahrhundert und Revolutionen (ab dem 18. Jahrhundert) gingen Hand in Hand. Doch was bleibt von der Erinnerung an die verschiedenen Erhebungen? Diese Frage stellt sich innerhalb der Geschichtswissenschaft nicht nur im Hinblick auf die Erinnerungskultur des 21. Jahrhunderts; mit einem historiografischen Blick versuchen Forschende neuerdings verstärkt zu klären, inwiefern Revolten, Aufstände und andere Episoden vormodernen Protests innerhalb der Gesellschaften und Räume, in denen sie sich abspielten, wenige Jahrzehnte oder Jahrhunderte später kommemoriert wurden: In Frankreich, wo die Forschung zu Revolten und Aufständen im vormodernen Zeitalter über eine lange Tradition verfügt, sind binnen der letzten drei Jahre allein zwei Sammelbände erschienen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Erinnerung an Revolten im vormodernen Europe zu rekonstruieren; beide Sammelbände entstammen dem von Alain Hugon koordinierten ANR-Projekt »Culture des révoltes et des révolutions«.
Der erste Sammelband, herausgegeben von Alexandra Merle, Stéphane Jettot und Manuel Herrero Sánchez (erschienen 2018) versucht die Erinnerung an Aufstände im vormodernen Europa anhand von überlieferten Schriften der Zeitgenossen zu rekonstruieren; der zweite Band, zusammengestellt von Éva Guillorel und David Hopkin, der Gegenstand der vorliegenden Rezension ist, möchte die Erinnerungskultur an vormoderne Protestepisoden dagegen aus einer ganz anderen Perspektive heraus beleuchten: Er stützt sich auf mündliche Kulturformen – auf Lieder, Balladen, Erzählungen oder Legenden – welche bereits unter den Aufständischen zirkulierten und in bestimmten Regionen über Generationen hinweg (mündlich) tradiert worden seien.
Die Beiträge, die in chronologischer Reihenfolge angeordnet insgesamt fünf der Vormoderne zuzuordnende Jahrhunderte abdecken, sind ausnahmslos als Fallstudien angelegt; sie behandeln vielfältige europäische Beispiele – die Beitragenden stützen sich etwa auf Lieder, welche im Kontext der städtischen Unruhen in den spätmittelalterlichen Niederlanden oder im Rahmen der irischen Rebellion von 1789 entstanden; auch Beiträge zum osteuropäischen Kulturraum (Estland, Russland) sind im Band vertreten. Im Großen und Ganzen verfolgen die Beiträge aber dieselbe Logik, der Aufbau gestaltet sich gleich: Die Fallstudien beschäftigen sich erstens mit der Frage, wie die mündlichen Zeugnisse der Aufständischen über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg tradiert werden konnten; zweitens versuchen die Beiträge zu klären, was spätere Generationen aus diesen Kulturformen gemacht haben bzw. wie sie sie eben kommemorierten.
Dabei treten teils überraschende Ergebnisse im Hinblick auf die vormoderne Erinnerungskultur zutage: So legen etwa die Fallstudien von Malte Griesse (zu den russischen Kosakenaufständen) und von Marc Lerner (zum Schweizer Bauernkrieg von 1653) auf sehr elaborierte Weise dar, wie die mündliche Kultur vergangener Aufstände anlässlich von Revolten, die sich Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte später zutrugen, regelmäßig wiederbelebt wurde; im Gegenteil dazu zeigt der Beitrag von Jan Dumolyn und Jelle Haemers zum spätmittelalterlichen Flandern, dass ursprünglich in einem aufständischen Kontext entstandene Lieder oder Balladen von späteren Generationen derart verändert wurden, dass letztere schließlich nicht mehr mit den jeweiligen Aufständen in Verbindung gebracht bzw. nicht mehr als rebellisches Kulturgut wahrgenommen wurden. Schließlich geht aus dem Beitrag von Kersti Lust zum vormodernen Estland hervor, dass in manchen Räumen Europas die Überlieferung im Rahmen von Protestepisoden entstandener Kulturformen auch dünn ausfallen konnte.
Der von Guillorel und Hopkin herausgegebene Sammelband verfolgt aber längst nicht nur die Absicht, die Erinnerungskultur an Aufstände und Revolten im vormodernen Europa zu beleuchten: Wie die Herausgeber in der Einleitung hervorheben, war die Kultur von Rebellen in der Vormoderne in erster Linie durch Oralität geprägt; Schriftlichkeit hätte sich für diejenigen, die sich gegen die Obrigkeit wandten, als Nachteil bzw. sogar als Gefahr dargestellt, denn schriftliche Zeugnisse hätten jederzeit gegen die aufständischen Bevölkerungsgruppen verwendet werden können, weshalb sich deren Kommunikation eher auf das Mündliche beschränkte. Bisher seien sich Historikerinnen und Historiker, die es in erster Linie ja gewohnt sind, mit schriftlichen Quellen zu arbeiten, noch längst nicht des Potentials bewusst, das mündlich überlieferte Kulturformen für das Studium vormoderner Protestepisoden bereithielten. Mithilfe von Liedern, Legenden, Erzählungen oder Balladen der Aufständischen ließen sich so nachträglich zum Beispiel deren konkrete Aussagen und Parolen rekonstruieren. Der Geschichtswissenschaft den Wert mündlich tradierter Quellen näherzubringen, steht also ebenfalls auf der Agenda des Sammelbandes.
Bei der Lektüre der Beiträge stellt sich allerdings die Frage, ob die überlieferten Lieder, Balladen, Erzählungen oder Legenden, auf die sich die Beitragenden stützen, authentische mündliche Überlieferungen darstellen bzw. jemals mündlich tradiert wurden. Die Mehrheit der im Sammelband enthaltenen Beispiele, sind den daran Beteiligten oftmals nur durch ethnographische Arbeiten oder Liedersammlungen des 19. Jahrhunderts zugänglich, welche u. a. unter dem Einfluss der Romantik und nationaler Strömungen entstanden und in diesem Zuge möglicherweise verfälscht worden sein könnten. Zudem legen beispielsweise die Beiträge von Georges Bischoff über den »Chant du Rosement« sowie von Michel Nassiet und Donatien Laurent zum Barzaz Breiz nahe, dass es keinen Beweis gibt, dass Lieder, Erzählungen oder sonstige mündliche Kulturformen wirklich unter den Aufständischen Verbreitung fanden. Überhaupt scheint es manchmal unmöglich, den Ursprung von Liedern oder Erzählungen mit Sicherheit zu ermitteln.
Zweifellos sind alle im Sammelband enthaltenen Beiträge genauestens recherchiert; dennoch stellt sich die Frage, was der Mehrwert dieser mündlichen Überlieferungen ist, wenn die Forschung sich über deren Authentizität nicht im Klaren zu sein scheint. Dieser Einwand kommt auch im Fazit des Sammelbandes zur Sprache, das von niemand Geringerem als Peter Burke verfasst wurde; allerdings formuliert Burke, der sich in der Vergangenheit übrigens bereits ausführlicher mit mündlichen Kulturformen der Vormoderne auseinandergesetzt hat, seine Kritik in Hinblick auf die Frage der Authentizität der Quellen in weitaus subtilerer Weise.
Offen bleibt also die Frage, ob sich die konkreten Aussagen Aufständischer anhand überlieferter Lieder, Legenden etc. tatsächlich durch die Forschung des 21. Jahrhunderts erschließen lassen; Guillorels und Hopkins Sammelband gelingt es leider nicht, diesen wissenschaftlichen Transfer zu leisten. Somit ist letzterer noch ausstehend und müsste durch ein zukünftiges Projekt durchgeführt werden. Insgesamt gesehen könnte die Idee, die Parolen von Aufständischen anhand ihrer über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg überlieferten mündlichen Kulturformen zu rekonstruieren, sich für die weitere Erforschung vormoderner Episoden des Aufstands allerdings als fruchtbares Konzept erweisen. So mahnte Jean-Marie Constant erst kürzlich an, dass es neuer Ansätze bedürfe, um etwa die Motive der an Aufständen Beteiligten besser erschließen zu können, über die Historikerinnen und Historiker (in Ermangelung zu diesem Zweck geeigneter Archivbestände) mehr oder weniger nur rätseln können; die mündliche Kultur der Aufständischen könnte hier vermutlich neue Zugänge eröffnen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sabrina Rospert, Rezension von/compte rendu de: Éva Guillorel, David Hopkin (dir.), Traditions orales et mémoires sociales des révoltes en Europe. XVe–XIXe siècle, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2020, 412 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-7982-8, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83582