Die Unabhängigkeitsreferenden in Katalonien und Schottland sowie die wiederholt langwierigen Regierungsbildungen in Belgien haben dem wissenschaftlichen und öffentlichen Interesse an Europas staatenlosen Nationen in den letzten Jahren deutlichen Aufwind verschafft. Mit seinem 2020 erschienen Buch, das sich mit dem deutschen Einfluss auf die Entwicklung des flämischen Nationalismus auseinandersetzt, leistet Jakob Müller seinen Beitrag zu dieser Debatte. Auf Basis einer die deutschen Besatzungen in Belgien während der beiden Weltkriege umspannenden Analyse stellt Müller die These auf, dass die Vorstellung einer prinzipiellen Unvereinbarkeit zwischen den Zielen flämischer Nationalisten und der Existenz Belgiens erst unter deutscher Besatzung während des Ersten Weltkriegs entstanden sei. Für diesen »externen schöpferischen Anteil«, der sich in klassische Nationalismusvorstellungen schwer integrieren lasse, prägt der Autor den Begriff der »importierten Nation«.

Mit seiner Studie möchte Müller die Erforschung dieses Imports vorantreiben und eine umfassende Darstellung aus Sicht der deutschen Akteure liefern. Dazu setzt sich das Buch in einem ersten, etwa zwei Drittel umfassenden Teil zunächst mit der deutschen Flamenpolitik zwischen 1914 und 1918 auseinander und untersucht dann in seinem zweiten Abschnitt die Rezeption und Folgen dieser Politik von der Zwischenkriegszeit bis hin zur erneuten Besatzung von 1940 bis 1945.

Auf Basis eines umfangreichen Quellenbestandes gelingt Jakob Müller im ersten Teil seines Buches eine äußerst detailreiche Analyse der Flamenpolitik verschiedener deutscher Akteure und Behörden während des Ersten Weltkriegs. Diese ist geeignet Frank Wendes 1969 erschienener Arbeit zur Rolle der belgischen Frage in der deutschen Politik des Ersten Weltkriegs neue Aspekte hinzuzufügen, was der Autor durchaus stärker hätte hervorheben dürfen1. Gerade dort, wo Müller seine Quellenarbeit an die Ergebnisse der neueren internationale Forschungen zur Entwicklung der flämischen Bewegung anbindet, zeigt das Buch nämlich seine Stärken. Hier wird eine interessante Wechselwirkung zwischen der interessengeleiteten deutschen Politik und der Unnachgiebigkeit der belgischen Exilregierung sichtbar, die immer wieder zu einer Mobilisierung und Radikalisierung der flämischen Nationalisten führte.

Die darüber hinaus gemachte Beobachtung, dass sich die Ziel- und Kompetenzkonflikte zwischen OHL und ziviler Reichsleitung auch auf die Besatzungsbehörden in Belgien übertrugen und auf diese Weise die Flamenpolitik mitbestimmten, ist angesichts der neueren Forschung zwar nicht überraschend, wurde für das Beispiel Belgien jedoch bisher nicht in dieser Tiefenschärfe herausgearbeitet. Eine Neuheit sind Müllers Ausführungen zur deutschen Abwicklungsbehörde, die zu Kriegsende die finanziellen Verbindlichkeiten der ehemaligen Besatzungsbehörden sowie den Umgang mit flämischen Flüchtlingen organisierte und zu einer wichtigen Anlaufstelle für flämische Nationalisten in dieser Übergangsphase wurde.

Der zweite Teil des Buches zeigt dann überzeugend die personellen Kontinuitäten deutsch-flämischer Netzwerke und Kollaboration in der Zwischenkriegszeit und während der zweiten Besatzung auf. Gleichzeitig macht Jakob Müller aber deutlich, dass von einer Kontinuität der deutschen Flamenpolitik keine Rede sein kann. Zu sehr unterschieden sich die Voraussetzungen und Ziele des NS-Regimes in Belgien von der deutschen Politik während des Ersten Weltkriegs. Denn während das Vorgehen in der flämischen Frage zwischen 1914 und 1918 hauptsächlich von mittelfristigen innen- wie außenpolitischen Überlegungen bestimmt worden war, ließen sich die deutschen Behörden während des Zweiten Weltkriegs von pragmatischen besatzungspolitischen Gesichtspunkten leiten.

Vielmehr als für die deutsche Politik, so argumentiert Müller, sei die Flamenpolitik des Ersten Weltkriegs ein wichtiger Bezugsrahmen für den flämischen Nationalismus nach 1918 gewesen. Dieser habe Inhalte und Richtung aus der Idee eines unabhängigen flämischen Nationalstaates gezogen, die unter deutscher Besatzung gezielt verbreitet worden war. Die Argumentation und Erzählung bleibt auch in diesem Teil des Buches schlüssig. Allerdings fällt auf, dass die Quellendichte in diesem zweiten Abschnitt deutlich geringer ist. Dies ist angesichts des längeren Beobachtungszeitraums sicher notwendig, mag allerdings auch darauf zurückzuführen sein, dass deutsche Quellen zur flämischen Bewegung in einer Phase relativen Desinteresses weniger aussagekräftig ausfallen müssen, als in der Hochphase des Ersten Weltkriegs.

Dem Autor gelingt es jedoch, diese Schwachstellen des Materials mit Hilfe der internationalen Fachliteratur geschickt zu kompensieren. Auf dieser Basis vermag der zweite Teil des Buches neben Einblicken in die deutsche Außen- und Besatzungspolitik nämlich auch Erkenntnisse zur inneren Entwicklung der flämischen Bewegung zu präsentieren, welche die These von der »importierten Nation« stützen. Diese These erweist sich für die gesamte Arbeit als äußerst anregend, auch wenn die genaue Definition der »importierten Nation« sich situativ leicht verschiebt und damit stellenweise etwas uneindeutig erscheint.

Obgleich an der ein oder anderen Stelle eine stärkere Kontextualisierung des belgischen Fallbeispiels mit der neueren Forschung zur deutschen Politik gegenüber anderen Nationalitäten gewinnbringend gewesen wäre und beim genauen Lesen des Gesamtwerks einige inhaltliche Dopplungen auffallen, hat Jakob Müller ein aufschlussreiches und gut lesbares Buch vorgelegt. Das Buch erschließt nicht nur die neuere internationale Forschung zum flämischen Nationalismus einem deutschsprachigen Publikum, sondern wartet auch mit einer Reihe eigener innovativer Ergebnisse auf. Eine gemeinsame Analyse der beiden deutschen Besatzungen in Belgien während der Weltkriege war notwendig und ist besonders in ihrer Dekonstruktion erwarteter Kontinuitäten bedeutend. Denn neben den beschriebenen Erkenntnissen zur belgisch-deutschen Geschichte, ermahnt Jakob Müllers Arbeit mit ihrer narrativen Integrität auch dazu, solche scheinbaren Kontinuitäten kritisch zu prüfen und nicht zwecks einer womöglich eindrucksvolleren Erzählung an diesen festzuhalten.

1 Frank Wende, Die belgische Frage in der deutschen Politik des Ersten Weltkrieges, Hamburg 1969.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Moritz A. Sorg, Rezension von/compte rendu de: Jakob Müller, Die importierte Nation. Deutschland und die Entstehung des flämischen Nationalismus 1914 bis 1945, Göttingen (V&R) 2020, 361 S., 13 Abb. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 238), ISBN 978-3-525-31120-2, EUR 70,00., in: Francia-Recensio 2021/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83583