Die Flut der zumeist literaturwissenschaftlichen Buchveröffentlichungen zu Walter Benjamin scheint kaum abzunehmen. Benjamin tritt hier oftmals entweder als messianischer Geschichtsdenker auf oder seine Schriften dienen als Folie für poststrukturalistische Spekulation. Ein Großteil dieser Publikationen hat sich in eine ausweglose Situation manövriert, die bisweilen mit Benjamins eigenen Arbeiten und deren Themen doch eher wenig zu tun hat. Benjamins Relevanz für die historisch orientierten Kulturwissenschaften wird ebenso unterschätzt als auch seine Bedeutung als politisches und geschichtsphilosophisches Barometer für das europäische intellektuelle Klima der Zeit zwischen den Weltkriegen.

Eine nüchterne und historisch wie philosophisch präzise Bestandsaufnahme, wie sie z. B. Uwe Steiner für die Sammlung Metzler vor einigen Jahren vorgelegt hat, bleibt eher selten. Eine Ausnahme von diesem doch eher beklagenswerten Stand der Benjamin-Forschung ist allerdings der 2020 erschienene Band des französischen Philosophen, Germanisten und Historikers Gérard Raulet. Der Band »Das befristete Dasein der Gebildeten. Benjamin und die französische Intelligenz« hält nicht nur, was der Titel verspricht, sondern stellt sich durch seine historische Reflexion auf Benjamins Verhältnis zu den französischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit auch einer grundsätzlichen Frage, die über den Kontext Benjamins hinaus von Belang ist: Was bedeutet es überhaupt, aus der Perspektive des ansonsten eher distanzierten intellektuellen Beobachters gesellschaftliches Engagement zu zeigen?

Wenn Benjamin sich in den 1920er und 1930er Jahren intensiv mit dem Status der französischen Intelligenz beschäftigt, geht es, wie Raulet zutreffend bemerkt, »um nichts Geringeres als das Selbstbewusstsein der geistigen Schicht« (S. 184). Dies ist eine Schicht der intellektuellen Elite von Schriftstellern, Philosophen und anderen, die sich vor allem in der Mitte der 1930er Jahre in einer letztlich katastrophalen Lage befindet. Der Verfall der bürgerlichen Intelligenz eines eher liberalen Humanismus, der republikanischen Prinzipien verpflichtet ist, ist zu diesem Zeitpunkt in Frankreich ebenso offensichtlich wie das Ende eines proletarisch orientierten Revolutionsmodells, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und unter den politischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts kaum Erfolg versprechen kann.

Zwischen dem Stalinismus der Sowjetunion auf der einen Seite und dem Faschismus Hitlers und Mussolinis auf der anderen stellt sich für die französische Intelligenz so die Frage der Entscheidung wie auch die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Benjamin, wie Raulet ausführt, ist als eine Art freischwebender Beobachter, der schließlich selbst auch im Pariser Exil ankommt, in einer idealen Lage, die geistesgeschichtliche Situation der französischen Intellektuellen kritisch in Betracht zu nehmen.

Ausgehend von Benjamins Aufsatz »Zum gegenwärtigen Standpunkt des französischen Schriftstellers« (1934) widmen sich die Kapitel von Raulets Buch nur scheinbar unzusammenhängenden Themen – von Benjamins Bemerkungen zu Julien Green und den Grenzen des psychologischen Romans und natürlich zu Prousts »mémoire involontaire« bis hin zu seinen komplexen und konfliktgeladenen Beziehungen zum Surrealismus, zu Georges Bataille and Roger Callois sowie André Gide und Paul Valéry. Im Hintergrund steht für Benjamin, wie aber auch für Raulet, hierbei stets das Problem der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit des Intellektuellen. Wenngleich Raulet am Ende seines hervorragend argumentierten und elegant geschriebenen Buches nach zehn Kapiteln dieses Problem vor allem darauf bezieht, »was die ›Linke‹ wollen soll und verändern kann« (S. 281), so geht Benjamin, wie Raulet kenntnisreich berichtet, dieser Frage auf dem Umweg einer detaillierten Beschäftigung mit jenen französischen Intellektuellen und Schriftstellern nach, die auf der rechten Seite des politischen Spektrums stehen und sich durch den Katholizismus der französischen Antimoderne fast automatisch in die Nähe des Faschismus begeben: Charles Maurras, Léon Bloy, Léon Daudet und natürlich der 1922 verstorbene Georges Sorel, dessen Theorien zur Gewalt stets im Hintergrund von Benjamins Reflexionen über den Zusammenhang von »Geist und Tat« stehen (S. 147). Benjamin, der die Zeitschrift »Action française« schon in den 1920er Jahren abonniert und dem S. Fischer Verlag auch eine Übersetzung ausgewählter Schriften des katholischen Denkers Charles Péguy anbietet, wenngleich vergebens, trifft sich auch mit Georges Valois, dem Gründer der kurzlebigen faschistischen Partei Le Faisceau, die sich allerdings schon 1928 auflösen muss.

Benjamin, so erläutert Raulet, versteht sich freilich selbst stets als Kritiker des Faschismus und schlägt sich eher auf die Seite des Kommunismus, zunächst zumindest, denn Raulet verdeutlicht wie kein anderer die enge Beziehung zwischen Benjamins Denken und der intellektuellen Rechten: »Benjamins Neugier auf rechtes Denken, ja seine Zuneigung zu ihm, ist zunächst sicher ein philosophisches Rätsel; allerdings handelt es sich um ein Rätsel, das sich aufklären lässt, wenn man es wieder in seinen Kontext einschreibt« (S. 163). Die Schriften, Diskussionen und Positionen der rechten und bisweilen protofaschistischen Autoren, denen sich Benjamin zuwendet, sind für ihn gerade deswegen wichtig, weil sie die Lage wie auch die Möglichkeiten des Intellektuellen unter den Bedingungen der Moderne beschreiben. Jenseits traditioneller politischer Lager, die einer Einteilung von links und rechts folgen, zeigt die Situation der französischen Intellektuellen, dass solche Kategorien unterschätzen, wie leicht nicht nur die französische Intelligenz von der einen Seite auf die andere und bisweilen wieder zurück wechselt.

Daudet, zunächst mit der Enkeltochter Victor Hugos verheiratet und dem Republikanismus nahestehend, wird unter dem Einfluss der Dreyfus-Affäre zu einem nationalistischen Kritiker der Demokratie, der schließlich auch das Vichy-Regime unterstützt. André Gide, Benjamin selbst nicht unähnlich (S. 215–233), wendet sich in den frühen 1930er Jahren zunächst dem Kommunismus als Antwort auf die zeitgeschichtliche Lage Europas zu, ohne jedoch der Partei beizutreten. Aber nach einer Reise nach Russland wendet er sich in dem einflussreichen Buch »Retour de l’U.R.S.S.« (1936) aus guten Gründen wieder ab. Auf einer dritten Seite steht Julien Benda, der in »La Trahison des clercs« (1927) kritisiert, wie sehr die Intellektuellen zu parteipolitischen Literaten geworden sind. Die Spaltungen in der gebildeten Schicht von Paris stehen somit auch stellvertretend für die geistesgeschichtliche Lage Europas im Zeitalter der Totalitarismen.

Vor diesem Hintergrund wird es für Raulet auch notwendig, Benjamins Beziehung zum Surrealismus neu zu bestimmen. In deutlichem Gegensatz zu der weit verbreiteten Annahme, dass Benjamins Auffassung der Avantgarde wie auch seine Kritik der Moderne vor allem vom Surrealismus bestimmt sind, macht Raulet deutlich, wie sehr Benjamin den Surrealismus als Fehlschlag erkennt. Sobald sich »die Frage nach dem emanzipatorischen Potential des Surrealismus« stellt (S. 74), wird zunehmend offensichtlich, dass gerade der Surrealismus in seiner Kritik an der bürgerlichen Kultur dieser letztlich verpflichtet bleibt und sich deswegen in den 1930er Jahren auch nicht als Modell für antifaschistische Kritik anbietet. Aus guten Gründen geben auch die Surrealisten den Surrealismus auf.

Für Benjamin bedeutet diese Gemengelage der französischen Intelligenz in den Zwischenkriegsjahren vor allem, dass der kritische Intellektuelle einem Nonkonformismus zuneigen sollte, der tagespolitischem Enthusiasmus jedweder Art kritisch gegenüberstehen muss (S. 156). In einer im besten Sinne detailversessenen Lektüre von Benjamins Rezensionen, Kritiken, Briefen und Essays zeigt Raulet überzeugend und mit Nachdruck, dass Benjamins idealer Intellektueller ein »Missvergnügter« zu sein hat (S. 31, 159). Erst aus dieser Perspektive lässt sich jenes »politische Erwachen« aus dem Tagtraum der Moderne erreichen, das auch im Zentrum des »Passagen-Werks« steht (S. 83). Misstrauen und Pessimismus sind die Alternativen zu allzu eindeutiger Parteinahme, die extremen politischen Positionen stets in die Hände spielt (S. 87–90).

Benjamins Position ist allerdings auch nicht ungefährlich. Während er sich vor 1934 dem Kommunismus nahe sieht, so wird nach 1934 die tagespolitische Lage zu einer Erfahrung mit geschichtsphilosophischer Durchschlagskraft. In ihrer Substanz zeigt sich die Moderne also nicht von Utopie und Hoffnung charakterisiert, sondern von Zerfall. Benjamins offensichtliche Suche nach einer politischen Authentizität muss stets leer ausgehen. Dies wiederholt allerdings nicht einfach die barocken Themen der fehlgeschlagenen Habilitationsschrift über den »Ursprung des deutschen Trauerspiels« (1928), sondern Benjamins Perspektive – z. B. in den langen Briefen an Max Horkheimer zwischen November 1937 und März 1940 – zeigt viel eher die enge Verbindung und Verschränkung einer rechten und bisweilen rechtsextremen intellektuellen Tradition mit den noch verbliebenen Möglichkeiten eines linken Antifaschismus.

Das pessimistische Geschichtsverständnis der französischen Rechten im Anschluss an die Französische Revolution deckt sich letztlich mit Benjamins eigenem Pessimismus wie auch mit der Perspektive von Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung. Es führt also eine Traditionslinie von Joseph de Maistre und Louis de Bonald über Georges Sorel bis zu Benjamin (S. 184–193), die erklärt, warum letzterer sich im Paris der 1930er Jahre so intensiv mit der französischen Rechten beschäftigt und deren Denkfiguren bisweilen durchaus sympathisch gegenübersteht. Schon aus diesem Grund, der in gewisser Hinsicht das heroische Bild Benjamins als tragischer Beobachter der Moderne unterläuft, weist Raulet schon gleich zu Beginn seines Buches darauf hin, dass er hier »nicht das gewohnte Benjamin-Bild« präsentieren wird (S. 7). Raulets Buch, kurz und gut, ist herausragend. Die Lektüre lohnt sich nicht nur für jene, die vorrangig an Benjamin interessiert sind, denn Raulet entwirft hier ein bemerkenswertes Panorama der französischen Intelligenz in der Zwischenkriegszeit, das auch Fragen für die heutige politische Rolle der Intellektuellen aufwirft, die so einfach nicht von der Hand zu weisen sind.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christian J. Emden, Rezension von/compte rendu de: Gérard Raulet, Das befristete Dasein der Gebildeten. Benjamin und die französische Intelligenz, Konstanz (Konstanz University Press) 2020, 283 S., ISBN 978-3-8353-9122-2, EUR 29,90., in: Francia-Recensio 2021/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83586