Der thematisch, zeitlich und geografisch weit ausgreifende Sammelband geht zurück auf eine gemeinsame Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und des Wirtschaftshistorischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik im April 2017. Die Herausgeber, beide Wirtschafts- und Sozialhistoriker, Emeritus an der Universität Bonn der eine, Professor an der Universität Regensburg der andere, hatten den Auftrag formuliert zu erkunden, »welche Akteure und Institutionen, welche Ereignisse und Entwicklungen die sozioökonomische Integration und Desintegration in Europa sowie Europas in und mit der Welt beeinflussten, beförderten bzw. bremsten« (S. 8). Die insgesamt elf Autorinnen und Autoren erledigen diesen Auftrag auf ganz unterschiedlichen Politikfeldern, aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und mit durchweg interessanten Befunden.
Philipp Robinson Rössner spannt mit seinem Beitrag über »Economic Governance and the Rise of European Capitalism« den weitesten zeitlichen Bogen. Er zeichnet die großen Linien staatlicher Wirtschafts- und Ordnungspolitik seit dem ausgehenden Mittelalter nach. Seither hätten die Staaten ein immer vielfältigeres und vielseitigeres Menü an Handlungsoptionen entwickelt. Lediglich die staatliche Bürokratie sei seit dem 19. Jahrhundert als qualitativ neues und effizienzsteigerndes Moment hinzugekommen (S. 48).
Yiannis Kokkinakis fragt, welche Auswirkungen integrative und desintegrative Kräfte auf die geldpolitischen Entscheidungen der kretischen Regierung in den Beziehungen zu Griechenland von der Wende zum 20. Jahrhundert bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten. Anschließend analysieren Christian Henrich-Franke, Cornelius Neutsch, Laura Elsner und Guido Thiemeyer die Auswirkungen der infrastrukturellen Grundlagen auf die wirtschaftliche Integration wie Desintegration Europas vom frühen 19. Jahrhundert bis in die 1990er Jahre, indem sie vier maßgebliche Akteure – Wilhelm von Humboldt, Heinrich von Stephan, Lambert Schaus und Theodor Irmer – und deren von der Öffentlichkeit eher selten wahrgenommene infrastrukturelle Aktivitäten etwa im Bereich der Schifffahrt, des Postwesens und der Verkehrspolitik vorstellen. Ebenfalls mit Problemen der Verkehrspolitik, allerdings im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), beschäftigt sich Uwe Müller. Er kommt zu dem ernüchternden Befund, dass dort eine »eigentliche Integration […] im Sinne eines einzigen Wirtschaftsraums« nicht stattgefunden habe (S. 124).
Heike Knortz untersucht den Anteil insbesondere der italienischen »Gastarbeiter« an der wirtschaftlichen Rekonstruktion Europas zwischen 1945 und 1958. Ihr Fazit: Während Italien mit Hilfe der Arbeitsmigration immerhin die Arbeitslosigkeit verringern und die Leistungsbilanz entlasten konnte, wirkte sich die Anwerbepolitik der Bundesrepublik kurz-, mittel- und langfristig eindeutig ungünstig aus, weil durch die »Anwerbung fast ausschließlich Ungelernter […] nicht mehr wettbewerbsfähige Branchen« subventioniert wurden (S. 152). Christian Marx nimmt »unter Rückgriff auf Erklärungsansätze aus der Integrations- und Unternehmensforschung« das »Wechselverhältnis von europäischer Integration und multinationalen Unternehmen« der Chemieindustrie seit Ende der 1950er Jahre in den Blick (S. 156). Obwohl Entscheidungen zur Kooperation oder gar Fusion mitunter auf ältere Verbindungen zwischen einzelnen Unternehmen zurückgingen, waren es »vor allem die ökonomischen Erwartungen, die mit einem gemeinsamen Markt verbunden waren, welche die Unternehmen schon Ende der 1950er Jahre veranlassten, ihre unternehmensstrategische Ausrichtung zu überdenken« (S. 183).
Im vorletzten Aufsatz lobt Richard Vahrenkamp die Integrationsleistung verschiedener Sparten der Logistikbranche, ehe sich Hans-Peter Ullman abschließend kritisch mit dem Begriff der »Schuldenkultur« auseinandersetzt und die Frage aufwirft, ob die EU-Kommission eine »eigene, die nationalen Schuldenkulturen übergreifende, also in den Grundzügen europäische Schuldenkultur formuliert hat« (S. 227).
Fünf der acht Beiträge basieren auf unveröffentlichten Quellen aus einschlägigen Archivbeständen, alle zeichnen sich durch methodisch reflektierte, auf der Höhe der Forschung argumentierende Überlegungen aus und eröffnen neue Einsichten in die Prozesse wirtschaftlicher und politischer Integration – sei es im Rahmen europäischer oder internationaler Institutionen wie der EWG/EG/EU oder der International Labour Organisation, sei es außerhalb institutionalisierter Formen der Zusammenarbeit. Sie verdeutlichen, dass die Erwartung, diese Prozesse könnten irgendwann »unumkehrbar« sein, ziemlich naiv ist.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Günther Schulz, Mark Spoerer (Hg.), Integration und Desintegration Europas. Wirtschafts- und sozialhistorische Beiträge, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2019, 230 S., 7 s/w Abb., 8 Tab., 9 Fotos (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte, 244), ISBN 978-3-515-12350-1, EUR 46,00., in: Francia-Recensio 2021/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83587