Kleintexte, Listen, Inschriften auf Kunstgegenständen, Notizen, listenartige Register und Merkzettel sind der Mittelalterforschung seit Langem bekannt. Da ihre Benützung oft unlösbare Rätsel aufgibt, wurde dieser Art überlieferten Schriftgutes für die Forschung nur in besonderen Einzelfällen Bedeutung geschenkt, etwa wenn aus einer Inschrift Schlussfolgerungen und Einsichten in Zusammenhänge möglich waren, die der Forschung sonst unbekannt geblieben wären. Namenlisten der Heiligen und Kalendarien sind hiervon auszunehmen, die stets im Kontext breiterer Forschungen Interesse fanden, so etwa im Werk von Arno Borst oder in der Erforschung der Libri memoriales, eben der Bücher des Mittelalters, in denen Einträge von Namen für das liturgische Gebetsgedenken in den Klöstern des west- und mitteleuropäischen Raumes fortlaufend erfolgten.

Solche Memorialbücher basieren auf der Wechselwirkung von Texteintrag und Botschaft an die Lesenden, sie vermitteln den direkten Kontakt der Lebenden zu den Toten über die Worte und die Ausschmückung des Materials. Die Schreibstuben der Klöster legten auf diese Weise Register der Toten wie der Lebenden an, die dem Konvent verbunden waren und diesen Status auch nach dem Tod beibehielten. Eine andere bekannte Variante von Listen sind die handschriftlichen Glossen und Randkommentare zu theologischen, kanonistischen und juristischen Werken, entstanden an den Universitäten in der Zeit der Scholastik, die zunehmend Autorität gewannen für das rechte Verständnis des zugrunde liegenden Textes und seine Auslegung. Das umfangreiche Material der Epigrafik besitzt demgegenüber einen ganz anderen Wert für die Forschung.

Es dürfte klar sein, dass viele Texttypen von der Mittelalterforschung bisher kaum beachtet und erschlossen wurden. Für ihre Bearbeitung bedarf es aber auch einer komplexeren Methodik, die von den Archiv- oder den Kunstwissenschaften und der Textedition allein nicht aufgestellt werden kann.

Umso erfreulicher ist es, dass nun zwei Bände mit den Arbeiten einer interdisziplinären Forschungsgruppe vorliegen, die sich seit 2013 in dem von der Agence nationale de la Recherche finanzierten Projekt »Le pouvoir des listes au Moyen Âge« mit Listen des Mittelalters als Kleintexten umfassend beschäftigt hat1. Hierbei wurden einzelne Texttypen sowohl nach linguistischen Kriterien untersucht als auch in Hinblick auf den Prozess der Textproduktion. Bei Reihung von Kleintexten spielen deren Nummerierung und die verwandten Schemata eine Rolle, bei den glossierten Lehrwerken sind Gliederungselemente und die Aufteilung der beschriebenen Seite wichtige Kriterien, um eine kognitive Wirkung des Gesamttextes durch Kombination der visuellen und handwerklichen Fähigkeiten der Schreiber des Scriptoriums zu erzielen.

Julie Lemarié hat hierzu in seinem einleitenden Beitrag »(Comprendre) les énumérations« eine klare Disposition ihrer breit gefächerten psycho-linguistischen Vorgehensweise vorgelegt, dem drei Untersuchungen von Materialität und Formgebung von Elisa Pallottini, Stefano Riccioni und Ayelet Even-Ezra folgen. Elisa Pallottini setzt sich in ihrem Aufsatz »Monumentalisation et mise en scène des saintes dans le lieu de culte« (S. 31–69) mit den Namenlisten auf den Altarplatten der römischen Altäre von San Silvestre in Capite und Sant’Angelo in Pescheria sowie auf den drei Absiden von San Miguel de Escalada in Spanien, dem Reliquien bergenden Altar von Santa Maria in Aventino und dem Reliquienkreuz Bernwards von Hildesheim auseinander und untersucht die Wechselwirkung von Name, Altarplatte und Reliquiar vom 8. bis 11. Jahrhundert an diesen Beispielen. Die Verbindungen zum Tragaltar werden kurz angesprochen, sie bieten freilich wie das Bernwardskreuz eine Textreduktion zugunsten der künstlerischen Materialität und der Aussagekraft der Realie, weniger des Textes.

Der Beitrag von Stefano Riccioni »Les listes dans le discours visuel du Moyen Âge italien. Le cas de Rome aux XIe et XIIe siècles« (S. 32–90) gibt Einblick in seine epigrafische Arbeit an römischen Altären des 11. Jahrhunderts und vergleicht die Texte nach Kriterien der Gedankenanordnung mit Beispielen aus Inkunabeln sowie den Mosaiken von San Clemente und Santa Maria in Trastevere. Er gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass die Anordnung der Heiligen ihre Bedeutung während der Zeit der Reformkirche des 11. Jahrhunderts und deren Gedankengut widerspiegelt.

Ayelet Even-Ezra untersucht in ihrem Text »Listes et diagrammes scolastiques. Une première approche de leurs mises en page, thèmes et fonctions« (S. 91–120) die verschiedenen Formen der Textanordnung in Diagrammen sowie deren Logik und Interaktionsmöglichkeiten zwischen Textautoren und Benutzern anhand theologischer Texte und Materialien der Textexegese, etwa zu den Sentenzen des Petrus Lombardus. Natürlich ist das Schema der »Quaestiones« der Scholastik nicht nur, wie dargestellt, eine Form des »pro et contra«, sondern es bot doch nur ein Raster für Varianten des scholastischen Unterrichts. Hier gibt es im zweiten Teil des Bandes »Ordres et pragmatique« fünf Texte, die mit einem linguistisch ausgerichteten Beitrag von Caterina Donati »Pour une grammaire des listes« (S. 121–132) zu Semantik und funktionaler Textanordnung beginnen.

Das Thema der Anlage großer Konkordanzen wird an zwei Beispielen zum Werk des Thomas von Aquin von Catherine König-Pralong behandelt. In ihrem Beitrag »Une liste scolastique en réseau. La Concordance thomiste de Pierre de Bergame et Ambroise de Alemania« (S. 133–155) beschreibt sie, dass diese Listen methodisch am »Decretum Gratiani« ausgerichtet seien, und zeigt, dass man aus der Art der Anlage der Konkordanzen den Autor erschließen könne.

Die Frage nach Beginn und Aus- bzw. Weiterführung theologischer Kommentare in Listenform erörtert Claire Angotti in ihrem Beitrag »Comment naît et vit une liste? Élaborations, développements et usages des listes chez les théologiens: l’exemple des ›propositions non tenue‹ du ›Livre des Sentences de Pierre Lombard‹« (S. 157–186), indem sie besonderes Interesse dem Punkt der Weiterführung von Listen und deren didaktischer Bedeutung widmet (mehrere Anhänge).

Die Frage der Wechselwirkung von Zahlensymbolik und Textanordnung untersucht Martha Rust in ihrem Artikel »Ensemble de dix, sept et cinq: le pouvoir de cardinalité d’une liste« (S. 186–220) und weist anhand von Erbauungsliteratur, etwa des »Brevilogium« des Bonaventura, auf die festgelegte Rangordnung von Zahlen und deren Einsatz zur psychologischen Manipulation der Lesenden hin.

Abschließend ist der Frage der Grammatik der Glossatoren ein Beitrag von Franck Cinato mit dem Titel »Les listes de grammaire dans le haut Moyen Âge et le témoinage du Liber glossarum« (S. 221–255) gewidmet, wobei sich in den von ihm untersuchten grammatikalischen Listen die Verwissenschaftlichung der Schreibkultur des Mittelalters zeige.

Ein Register schließt den Band ab, der im Wesentlichen zwei Themenbereiche aus der Materialfülle erhaltener mittelalterlicher Listenführung aufgegriffen hat: die Epigrafik und die Praxis der Glossierung theologischer Schriften in der Scholastik. Die lingistischen Ausführungen sind eine willkommene Ergänzung zum Thema.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Adelheid Krah, Rezension von/compte rendu de: Claire Angotti, Pierre Chastang, Vincent Debiais, Laura Kendrick (dir.), Le pouvoir des listes au Moyen Âge. I: Écritures de la liste, Paris (Publications de la Sorbonne) 2019, 272 p. (Histoire ancienne et médiévale, 165), ISBN 979-10-351-0317-0, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83588