Mit diesem zweiten Band zum Thema »Le pouvoir des listes au Moyen Âge« liegt nun eine umfassende Darstellung vor, die es bisher nicht gab1. Man könnte danach fragen, inwieweit das Denken in Listen die Schriftkultur des Mittelalters beeinflusst hat, und auch gleich richtig beantworten: umfassend und grundlegend.

Freilich konnten trotz der enormen und sehr lobenswerten interdisziplinären Zusammenarbeit der Forschungsgruppe über Jahre und deren Unterstützung durch die beiden Herausgeberinnen der Reihe, ohne die diese beiden Bände und die Forschungsergebnisse der scientific community nicht zur Verfügung stehen würden, nur einige Aspekte erfasst werden. Umso erfreulicher ist es, dass im zweiten Band Beiträge zu ganz anderen Themenbereichen als im ersten Band zur Listenführung und Textorganisation nach Listen vorliegen. Die insgesamt zwölf Beiträge sind unter den Überschriften »La liste comme totalité« (Die Liste als Ganzes), »La liste comme monument« (Die Liste als unverrückbare Autorität) und »La liste comme maîtrise« (Die Liste zur Kontrolle) zusammengefasst.

Diese Gliederung mag auf den ersten Blick verwundern und zugleich zum Nachdenken anregen. »La liste comme totalité« meint hier Registrierung von Personen in Listen, wie dies seit der Antike verwaltungstechnisch praktiziert wurde; dies wurde am Beispiel der sehr gut erhaltenen und interessanten Listenführung der Bevölkerung der italienischen Stadt Lucca von Diane Chamboduc de Saint Pulgent für die Jahre 1370–1372 untersucht (S. 22–44). Dabei hat sie besonders den Aspekt der damals in Lucca möglichen politischen Instrumentalisierung von Personenregistern herausgearbeitet und zeigt, dass eine solche Nutzung der ohnehin einfachen Verwaltungsarbeit methodisch nicht erst in der Neuzeit bei der Anlage der »Bürgerbücher« entwickelt wurde.

In der Medizin gehören die regelmäßig geführten Aufzeichnungen nach Untersuchungen im selben Krankheitsbild oder an den menschlichen Säften seit der Antike zur anerkannt praktizierten Methode. Laurence Moulinier-Brogi stellt in ihrem Beitrag »La logique des listes dans les traités de médecine. À propos des ›catalogues‹ d´urines (XIIe–XVe siècle)« (S. 45–60) mittelalterliche Listen und Kataloge aus dem Bereich der Urologie vor und betont, dass die Untersuchung des Urins schon immer ein wichtiger Bestandteil der ärztlichen Diagnose war.

Die Liste ist der Mittelschritt zwischen Datenerfassung und Visualisierung der verschiedenen Urinbilder in mittelalterlichen Almanachen der Medizin, welche ausgetauscht wurden und in zahlreichen Handschriften der europäischen Bibliotheken noch erhalten sind.

Karin Becker untersucht in ihrem Artikel »La liste dans la danse macabre. La danse macabre comme liste« (S. 61–82) listenartige Verse des mittelalterlichen Totentanzes, während Hanno Wijsmann seine Ausführungen den Bücherverzeichnissen am burgundischen Hof des 15. und 16. Jahrhunderts widmet (S. 83–104), wovon das Verzeichnis des Bestandes beim Tod Philipps des Guten mit 878 Exemplaren besonders beeindruckt. Eliana Magnani behandelt in ihrem Beitrag »Des res en série au haut Moyen Âge« (S. 105–154) anhand der Manuskripte der »Gesta pontificum Autissiodorensium« und am Beispiel des aus dem »Liber pontificalis« übernommenen Gründungstextes der abendländischen Kirche serielles Schreiben, wobei aus Sicht der Rezensentin der autoritative Text des »Liber pontificalis« eher als »Stehsatz« denn als Faktenliste zu bezeichnen wäre.

Natürlich muss in dem Band auch der Texttypus des Nekrologs behandelt werden, hier von Carlos M. Reglero de la Fuente (S. 155–176) am Beispiel der Nekrologe von San Isidoro de Léon; ferner wird in den beiden folgenden Beiträgen das Thema »Listen« im Kontext des höfischen Banketts und der Textmuster und Allegorien der höfischen chançons de geste besprochen; in beiden fehlt aber die gedankliche Verbindung zur Materialität von Listen.

Im dritten Teil des Bandes werden Beispiele für Kontrolllisten thematisiert, so Klosterlisten über Bewohner (Nicolas Schroeder für die Klöster zwischen Seine und dem Rhein im 11. und 12. Jahrhundert), Inventarlisten aus der Provence (Philippe Bernardi) oder auch in der Jahrmarktspoesie vorkommende Objektlisten (Madeleine Jeay). Antropologische Überlegungen von Thierry Bonnet (»Commencer avec les objets et les choses«) beschließend den Band.

Diese Beiträge lassen erneut erkennen, dass die Methode der Verschlagwortung von Objekten, des logischen Ordnens in Listen, deren Materialität und ihre Verwendung als tatsächliche oder gedankliche Hilfsmittel bis hin zur Systematisierung und politischen Instrumentalisierung der Listen keine neuzeitliche »Erfindung« sind, sondern während des Mittelalters in allen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens relevant waren und umgesetzt wurden. Ohne Gedankenordnung mit der Hilfe vorhandener Listen oder Kataloge war es unmöglich, ein Bankett oder eine Totenfeier zu inszenieren, eine medizinische Diagnose zu erstellen oder das richtige Buch aus der Bibliothek zu holen.

Von den Herausgebern der beiden Bände »Le Pouvoir des listes au Moyen Âge« wurde leider versäumt, die Autoren auf ein Resümee am Ende ihrer Beiträge zu verpflichten; ferner hätten englischsprachige Abstracts zur Transparenz beigetragen und diesen Forschungsergebnissen ein breiteres Publikum eröffnet.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Adelheid Krah, Rezension von/compte rendu de: Étienne Anheim, Laurent Feller, Madeleine Jeay, Giuliano Milani (dir.), Le pouvoir des listes au Moyen Âge. II: Listes d’objets, listes de personnes, Paris (Éditions de la Sorbonne) 2020, 320 p., nombr. ill. (Histoire ancienne et médiévale, 171), ISBN 979-10-351-0574-7, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83589