Die Erforschung der alliierten Strafverfahren gegen deutsche NS-Täter nach dem Zweiten Weltkrieg hat in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte gemacht. Viel Aufmerksamkeit hat dabei der Umstand erfahren, dass die wenigsten Strafen, die Militärgerichte der drei westalliierten Nationen in ihren jeweiligen Besatzungszonen verhängten, langfristig Bestand hatten. Vielmehr wurden die Verurteilten im Zuge eines spätestens nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland einsetzenden »Gnadenfiebers« (Robert Kempner) aus politischen Erwägungen heraus zum Großteil vorzeitig in die Freiheit entlassen.
Das Wirken einzelner deutscher Landesregierungen und deren Rolle in diesem Zusammenhang musste bislang allerdings als wenig untersucht gelten. Aus diesem Grund ist der Ansatz, den Christopher Spies in seiner aus einer Dissertation entstandenen Studie verfolgt, bemerkenswert. Dem Verfasser geht es darum zu zeigen, wie die Regierungen der drei Länder der französischen Besatzungszone – Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg-Hohenzollern – in der »Kriegsverbrecherfrage« verfuhren und, ganz konkret, wie sie sich gegenüber der Besatzungsmacht für die Verurteilten einsetzten. Immerhin hatten französische Militärgerichte nach Kriegsende insgesamt rund 3600 Deutsche wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Ein Großteil von diesen wurde im Anschluss zur Verbüßung ihrer Strafen in die Haftanstalt Wittlich gebracht, die als zentrales Kriegsverbrechergefängnis der französischen Besatzungszone fungierte. Sukzessive kamen die dort Einsitzenden allerdings in den Genuss von großzügigen Begnadigungen durch die französischen Stellen, von denen auch zahlreiche zum Tode und zu lebenslangen Freiheitsstrafen Verurteilte profitierten. Bereits 1957 schlossen sich die Gefängnistore hinter den letzten Wittlicher Häftlingen, gegen die Schuldsprüche wegen NS-Verbrechen vorlagen.
Vor diesem Hintergrund weist Spies in seiner Studie nach, dass die Begnadigungen die Folge von beständigen Interventionen durch die drei Landesregierungen der Besatzungszone waren, die sich insbesondere gegenüber dem französischen Hochkommissar André François-Poncet für die Verurteilten verwendeten und auf deren Freilassung drängten. Um dies im Einzelnen nachzuvollziehen, hat der Verfasser eine beeindruckend große Zahl von Quellen in einer ganzen Reihe verschiedener Archive – darunter das Bundesarchiv, das Landeshauptarchiv Koblenz und das Staatsarchiv Freiburg – ausgewertet. Zu diesen Quellen zählen etwa Akten aus den Beständen der Staatskanzleien der drei genannten Länder, Akten der im Zuge der Begnadigungsverfahren für Rheinland-Pfalz eingerichteten deutsch-französischen Gnadenausschüsse, des Kriegsverbrechergefängnisses Wittlich sowie die privaten Nachlässe in die Vorgänge involvierter Politiker. Erfreulicherweise beschränkt Spies sich nicht auf die deutsche Seite, sondern zieht ebenso die die Begnadigungsverfahren betreffenden Akten der französischen Landeskommissariate für Rheinland-Pfalz und Baden heran, die heute im Archiv des französischen Außenministeriums in La Courneuve verwahrt werden.
Der Aufbau der Arbeit überzeugt durch seine Systematik, da sich der Verfasser nacheinander in einzelnen Kapiteln den drei Ländern der Besatzungszone zuwendet. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen hierbei insbesondere der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Peter Altmeier sowie die Staatspräsidenten von Baden und Württemberg-Hohenzollern, Leo Wohleb und Gebhard Müller, und deren Vorgehen in der Frage der inhaftierten NS-Täter. Alle drei Regierungschefs sahen in der »Kriegsverbrecherfrage« eine Angelegenheit von hoher politischer Brisanz und intervenierten wiederholt bei den französischen Stellen, insbesondere zugunsten derjenigen Verurteilten, die aus dem jeweiligen Land stammten.
Gemeinsam war den drei Politikern und ebenso ihren Mitarbeitern ferner, dass sie dies keineswegs aus persönlicher Sympathie oder aus ideologischer Verbundenheit mit den Verurteilten taten. Altmeier, Wohleb und Müller waren über jeden Verdacht einer weltanschaulichen Nähe zum Nationalsozialismus erhaben, wie Spies überzeugend darlegt. Als Motive sieht er vielmehr eine komplizierte Gemengelage unterschiedlicher Erwägungen, die den Kurs der drei Landesregierungen bestimmte. Zum einen war in den drei Staatskanzleien der Glaube weitverbreitet, das in den öffentlichen Debatten äußerst präsente und dort mitunter starke Emotionen hervorrufende »Kriegsverbrecherproblem« könnte sich als Hindernis für eine deutsch-französische Annäherung erweisen, die Altmeier, Wohleb und Müller erklärtermaßen anstrebten. Zum anderen einte die Landespolitiker aber auch die Auffassung, dass deutschen Staatsgehörigen, die sich vor ausländischen Gerichten verantworten mussten, grundsätzlich Rechtsschutz zu gewähren war.
Dies ging vielfach einher mit einer Skepsis gegenüber der Urteilspraxis der französischen Militärjustiz und häufig unvollständigen Informationen in den Staatskanzleien über die Biografien der Verurteilten, von denen einige beispielsweise als Angehörige von Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD an schwersten Kriegsverbrechen beteiligt gewesen waren. Hinzu kamen unter Umständen persönliche Motive wie etwa bei Peter Altmeier, der die »Kriegsverbrecherfrage« und die von ihm ein-gebrachten Gnadengesuche bewusst nutzte, um seine Popularität in Rheinland-Pfalz auszubauen.
Jedoch nicht nur die Motive der handelnden Politiker, sondern auch die Abläufe der Begnadigungsverfahren mit einer Vielzahl von Beteiligten sowie deren Thematisierung als Teil der öffentlichen Debatten in der jungen Bundesrepublik werden von Spies differenziert nachgezeichnet und in ihrem Kern erfasst. Als besonders angenehm für die Lektüre ist die Tatsache zu bezeichnen, dass der Verfasser zu keinem Zeitpunkt in eine irgendwie geartete, moralisierende Bewertung seines Themas abgleitet. Stattdessen gelingt es ihm, die Ursachen für einen nach heutigen Maßstäben nur schwer verständlichen Vorgang – nämlich den Einsatz demokratischer Politiker für gerichtlich verurteilte Massenmörder und andere NS-Verbrecher – herauszuarbeiten und in ihrer Komplexität offenzulegen. Dadurch leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag zum grundsätzlichen Verständnis der Frage, wie sich westdeutsche Landespolitiker nach dem Zweiten Weltkrieg in den Debatten um die Begnadigung verurteilter NS-Verbrecher einbrachten und welche Haltung sie hierbei gegenüber den Vertretern der alliierten Siegermächte einnahmen. Für die konkreten Vorgänge um die Abwicklung der »Kriegsverbrecherfrage« in der französischen Besatzungszone kann Spies’ Untersuchung ohnehin als grundlegend gelten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Matthias Gemählich, Rezension von/compte rendu de: Christopher Spies, Die »Kriegsverbrecherfrage« in Rheinland-Pfalz, Baden und Württemberg-Hohenzollern. Zur Politik der Regierungen Altmeier, Wohleb und Müller in Begnadigungsverfahren von Verurteilten französischer Militärgerichte (1947–1957), Ubstadt-Weiher (verlag regionalkultur) 2020, 480 S., 15 Abb. (Veröffentlichungen der Kommission des Landtages für die Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, 32), ISBN 978-3-95505-214-0, EUR 34,90., in: Francia-Recensio 2021/3, 19.–21. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83593