Nochmals das Lob eines Autors anstimmen, der über ein langes Gelehrtenleben hin ein in seiner Fülle und Qualität imponierendes Œuvre vorgelegt hat und sich nunmehr daran macht – neben weiterhin neuen Publikationen – wichtige Aufsätze in leicht überarbeiteter und aktualisierter Form in Sammelbänden vorzulegen? Nein, dessen bedarf der Vielgeehrte nicht, zudem hat Rezensent das Seine dazu bereits in der Besprechung eines solchen, 2020 erschienenen Bands in dieser Zeitschrift gesagt. Es ist die Zeit der Ernte; nunmehr – nach den im Vorjahr veröffentlichten, ausgewählten Beiträgen des Verfassers zu Jeanne d’Arc und Frankreich im 15. Jahrhundert1 – auf einem Feld, das der inzwischen fast Neunzigjährige seit früher Zeit kontinuierlich und intensiv bestellt hat: dem des Adels und der Adeligen im französischen Spätmittelalter, worüber er auch schon 1997 in einer eigenen Monografie handelte2.
Die hier präsentierten, wohlgemerkt wiederum ausgewählten Studien stammen aus den Jahren 1985 bis 2011; mit ihren Änderungen und Ergänzungen, vor allem im Hinblick auf neuere und neueste Literatur, zeugen sie, wie auch die kurz gehaltenen Einleitung und Epilog (S. 9–24, 317–324), vom ausdrücklichen Bemühen, die eigentlich allein schon aufgrund ihrer außerordentlichen Quellendichte mehr oder minder »zeitlosen« Aufsätze mit dem Stand der heutigen Forschung zu verbinden. Das entsprechende, eigens für das Buch angelegte Gesamtverzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur kommt schon einer »Bibliographie raisonnée« zum Thema nahe (S. 331–376); auch der Index (S. 377–393) sowie die mit kurzen Inhaltsangaben der einzelnen Aufsätze versehene Liste von deren Erstdruckorten (S. 325–329) belegen überdies eine gute (und im Vergleich zu erwähntem Vorgängerband: bessere) redaktionelle Betreuung (Guy Stavridès)3.
Bereits besagte Resümees vermitteln einen ersten Eindruck von der Vielzahl der untersuchten Aspekte und Facetten, die zwar stets auf das französische Königreich im Spätmittelalter bezogen sind, doch vergleichend auch die europäischen Dimensionen des Themas einbeziehen. Dass es sich beim Adel selbstredend um ein alteuropäisches Phänomen par excellence handelt, spiegelt sogar noch eine – übrigens selbst beim Anlegen Contaminescher Maßstäbe durch ihren exzeptionellen Quellenreichtum bestechende – Studie über »Le cheval ›noble‹« (S. 281–315) (der man vielleicht sogar einmal eine weitere über Jagdhunde zur Seite stellen könnte, vgl. S. 312 Anm. 141). Das gebotene Spektrum reicht u. a. von adeligen Damen zu Pferde, von deren speziellen Räumen bei Hof, über Tjoste und Turniere, Adel und Stadt, über Herolde und Wappenkönige oder die Rolle der douze pairs de France im Rahmen eines königszentrierten Ordnungsgefüges bis hin zur Erörterung genereller Probleme adeliger Herrschaft über Land und Leute sowie zur konkreten Ökonomie der Adelssitze und zur Rolle des »château« in den Chroniken des Jean Froissart. wobei es gerade die Lektüre Froissarts war, die Contamine nach eigenem Bekunden in frühen Jahren zu seinem Thema geführt hat (S. 11).
Hier sei auf eine Wiedergabe des Inhalts der einzelnen Studien verzichtet, zumal hierfür schon ein Blick in besagte Zusammenfassungen genügt, sondern nur auf deren Grundanliegen hingewiesen: Ungeachtet der vielbeschworenen Krise(n) des Spätmittelalters, wovon zweifellos auch der Adel in einem von Pest, Unruhen und Hundertjährigem Krieg geschlagenen Frankreich betroffen war, ungeachtet aller ökonomischen und demografischen Verwerfungen, aller politischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Kontext des Wandels der Feudalmonarchie zu einem prämodernen Königsstaat samt dem damit verbundenen Aufstieg neuer, durch Fachkompetenz qualifizierter nichtadeliger Schichten und samt der Potenz eines wirtschaftlich wohlfundierten Bürgertums, für den als Beispiel der »königliche Kaufmann« Jacques Cœur steht (S. 322), und schließlich ungeachtet der vielen individuellen Niedergänge und Unterbrüche blieb der Adel im Kern doch, was er seit jeher war: »une valeur reconnue, un ›état‹ hautement désiré et recherché par beaucoup« (S. 249).
Denn das Ziel der Aufsteiger hieß Nobilitierung, ihr Ideal lautete »vivre noblement«: »Les nouveaux nobles, de fait comme de droit, ne sont-ils pas un hommage vivant qu’ils rendent à cette idée [de noblesse]?« (S. 324). Er war nach eigener Einschätzung »le nerf et force du royaume«, was er selbst auf den Generalständen von Tours 1484 zum Ausdruck brachte (S. 318) – ehrgeleitet und vom Vorrang durch Geburt überzeugt, der sich durch entsprechende Positionen in Militär, Kirche und bei Hofe manifestierte. Selbst im Kleinen und Kleinsten – wer, bis auf wenige Spezialisten, kennt etwa jenen »Merlin de Cordebeuf et son traité sur les chevaliers errants« aus dem 15. Jahrhundert? (S. 239–247) – spiegeln die Aufsätze in beeindruckender Anschaulichkeit jene geschichtsmächtige Potenz des Adels, die Frankreich und Europa bis 1789 prägen sollte.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Philippe Contamine, Nobles et noblesse en France. 1300–1500, Paris (CNRS Éditions) 2021, 396 p., ISBN 978-2-271-13667-1, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83600