Reflexionen über die Natur des Individuums, seine Rolle in Gemeinschaften und vor Gott setzen im 12. Jahrhundert ein und sind keineswegs, wie Rijcklof Hofman in seiner Einleitung zu diesem anregenden Band herausstellt, Produkte der Renaissance, wie bis heute gerne behauptet wird. Die Entstehung der hohen Schulen und Universitäten sowie die Auffächerung der Orden eröffneten seit dieser Zeit Wahlmöglichkeiten unter verschiedenen religiösen Lebensgestaltungen. Hinzu kamen Angebote für Laien außerhalb der Klausur. Die neue Frömmigkeit der Niederlande seit dem Ende des 14. Jahrhunderts betonte in besonderem Maße verinnerlichte Formen der Andacht und der religiösen Hingabe, die in strengen Klostergemeinschaften, in unklausurierten städtischen Konventen der Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben oder durch Individuen nach eigenen Möglichkeiten realisiert werden konnten.

Der sperrige Titel des Bandes wird in der Einleitung durch Begriffsklärungen und Rückblicke auf die Forschungsgeschichte entfaltet. Der Einzelne, dessen religiöse »Innerlichkeit« ein einzigartiges »Selbst« erzeugt und eine persönliche Beziehung zu Gott entwickelt, nimmt im Rahmen seiner Möglichkeiten religiöse Handlungsoptionen wahr. Dabei kommuniziert er mit anderen Individuen bzw. mit seiner religiösen Gemeinschaft, muss sich zum einen einordnen, zum anderen abgrenzen. Die neun Essays des Bandes (Einleitung und acht Aufsätze) erkunden auf unterschiedlicher Quellenbasis und mit verschiedenen Perspektiven das Beziehungsdreieck Individuum – Gemeinschaft – Gott und bieten gedankenreiche Zugänge zu dieser dynamischen Konstellation. Sie gingen aus einer Tagung von 2016 hervor, auf der 32 Beiträge zur Diskussion gestellt wurden; welche Kriterien zur Auswahl der vorliegenden Aufsätze führten, wird nicht thematisiert. Die meisten Beiträge verweisen auf Entwicklungen, die der »Devotio moderna« vorausgingen, sowie auf Persönlichkeiten aus der Frühzeit der Bewegung bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts.

Rob Faesen (»›Individualization‹ and ›Personalization‹ in Late Medieval Thought«, S. 35–50) entfaltet am Beispiel Wilhelms von Saint-Thierry die Differenzierung der beiden Begriffe; der erste meint den Menschen in seiner Beziehung zu Gott und den Mitmenschen, mit deren Hilfe er überhaupt erst Identität ausbildet; der zweite das Individuum, das durch autonome Entscheidungen einen autarken Lebensraum gestaltet. Wilhelm betonte in seiner Kontroverse mit Abaelard, der das zweite, in die Moderne verweisende Prinzip vertrat, die relationale Natur des Menschen in Analogie zur Trinität. Faesen verfolgt das Weiterwirken der Gedankenführung Wilhelms (oft unter dem Namen Bernhards von Clairvaux) bei Geert Grotes Lehrer Jan van Ruusbroec und in Texten des 16. Jahrhunderts, darunter die Exerzitien des Ignatius von Loyola.

Zwei Persönlichkeiten, die die »Devotio moderna« entscheidend prägten, stehen im Mittelpunkt der Beiträge von Rijcklof Hofman (»Geert Grote’s Choice of a Religious Lifestyle without Vows«, S. 51–66) und Margarita Logutova (»›Ama nesciri‹: Thomas a Kempis’s Autobiography Reconstructed from his Works«, S. 67–86). Hofman zeigt, wie Geert Grotes Konversion in Todesnot sein persönliches Verhältnis zu Gott prägte und ihn zum Advokaten eines ernsthaften und aufrichtigen Lebenswandels werden ließ, dem sowohl Laien als auch Geistliche folgen sollten. Logutova setzt die etwa drei Dutzend autobiografischen Bemerkungen im Werk des Thomas von Kempen miteinander in Beziehung und hebt deren stark pädagogischen Charakter hervor. Der früh verwaiste Thomas zeigte sich tief dankbar gegenüber seinen Lehrern und Seelenführern, die ihn stark beeindruckten. Seine eigene und literarische Nachfolge Christi entspringt der Introspektion und der Zurücknahme des Ichs; wer sich selbst gering achtet, so Thomas, kann sich ganz in den Dienst an Gott und den Nächsten stellen.

Koen Goudriaan (»Modern Devotion and Arrangements for Commemoration: Some Observations«, S. 121–136) ordnet die »Devotio moderna« in einen eher traditionellen Zusammenhang ein und relativiert die Rolle personalisierter Frömmigkeit unter Hinweis auf die gemeinschaftlichen Vollzüge der liturgischen Memorialkultur. Wie in allen Klöstern des späten Mittelalters wurde auch in den Häusern der »Devotio moderna« gegen entsprechende Zuwendungen die Memorie der Stifter und Gönner begangen, was auch der Vorstellung entgegensteht, dass die Devoten eher Vorboten der Moderne denn Vertreter des Hergebrachten waren. Am Beispiel zweier Kanonikergemeinschaften des Kapitels von Sion zeigt Goudriaan, dass standardisierte Gebetsleistungen auf rege Nachfrage stießen und die vertiefte Innerlichkeit der Lebensweise nicht als Gegensatz zur gemeinschaftlichen liturgischen Praxis gesehen werden sollte.

Die Spannungen zwischen persönlicher Andacht und Leben in Gemeinschaft werden eindrücklich aufgezeigt durch den Beitrag der inzwischen leider verstorbenen Anne Bollmann (»Close Enough to Touch: Tension between Inner Devotion and Communal Piety in the Congregations of Sisters of the ›Devotio Moderna‹«, S. 137–158). Sie untersucht die »Vivendi formula« (entstanden um 1435) der Salome Sticken, die sowohl als Schwester vom gemeinsamen Leben in Deventer lebte als auch (zeitweise als Priorin) im Kloster Maria und Agnes von Diepenveen, einem Ausgangspunkt des weiblichen monastischen Zweiges der »Devotio moderna«. Salome verfasste eine Art Handbuch zur Lebensführung entlang des Tagesablaufs ihrer »lieben Schwestern«. Sie wusste um die Schwierigkeiten einer Balance zwischen internalisierter Spiritualität und angepasstem Leben im Konvent, ein Thema, das auch von den späteren Schwesternbüchern aufgegriffen wurde; appelliert wird an die Verantwortlichkeit jeder Einzelnen für ihre Lebensführung bei striktem Gehorsam in der Gemeinschaft.

Wie schon in der Einleitung herausgestellt, bestand ein besonderer frömmigkeitsgeschichtlicher Beitrag des späten Mittelalters in der starken Identifizierung des Menschen mit dem leidenden Christus und in der meditativen Verehrung von Gegenständen und Abbildungen. Nigel Palmer (»›Antiseusiana‹: Vita Christi and Passion Meditation before the ›Devotio Moderna‹«, S. 87–119) kontrastiert die 100 Betrachtungen des Heinrich Seuse, in deren Zentrum das Miterleben und Mitleiden der Passion Christi steht und deren komplizierte Überlieferungsgeschichte er ebenfalls im Blick hat, mit den Lignum-Christi-Meditationen Bonaventuras. Diese thematisieren zahlreiche Aspekte der Menschlichkeit Jesu Christi und sind nicht auf Leiden und Tod beschränkt. Eine solche Bandbreite von Möglichkeiten der Imitatio Christi wurde aufgegriffen von Autoren wie Jordan von Quedlinburg und dem Karthäuser Ludolf von Sachen, so dass die »Devotio moderna« auf eine Fülle von unterschiedlich nuancierten Andachtstexten zurückgreifen konnte.

Weitere Kontemplations- und Meditationspraktiken werden durch die Liederzyklen der Devoten illustriert, die besonders an Affekte und sinnliche Erfahrungen appellieren; sie konnten freilich auch der Erholung und Entspannung dienen, wie Thom Mertens und Dieuwke van der Poel ausführen (»Indivuality and Scripted Role in Devout Song and Prayer«, S. 159–179). Sieben überlebende Exemplare eines in fünf Auflagen gedruckten Andachtswerks stellt Anna Dlabačová vor (»Illustrated Incunabula as Material Objects: The Case of the Devout Hours on the Life and Passion of Jesus Christ«, S. 181–221); die Drucke wurden mit Holzschnitten, Zeichnungen und handschriftlichen Zusätzen wohl nach den Wünschen und Geldbörsen ihrer Besitzerinnen und Besitzer personalisiert, ähnlich wie zahlreiche Handschriften des späten Mittelalters, die Kathryn Rudy untersucht hat, deren Arbeiten in diesem Aufsatz allerdings nicht rezipiert wurden.

Insgesamt trägt der Band durch die Multiperspektivität der Beiträge und ihr hohes Niveau nicht nur zum Verständnis der Herausforderungen bei, denen sich die »Devotio moderna« zur Erneuerung des religiösen Lebens stellte, sondern laden auch zum Befragen weiterer Quellen mittels der hier entwickelten Fragestellungen bei.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Letha Böhringer, Rezension von/compte rendu de: Rijcklof H. F. Hofman, Charles M. A. Caspers, Peter J. A. Nissen, Mathilde van Dijk, Johan Oosterman (ed.), Inwardness, Individualization, and Religious Agency in the Late Medieval Low Countries. Studies in The »Devotio Moderna« and its Contexts, Turnhout (Brepols) 2020, X–230 p., 9 b/w, 6 col. ill., 5 b/w tabl. (Medieval Church Studies, 43), ISBN 978-2-503-58539-0, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83611