Das 2020 erschienene Buch der im selben Jahr verstorbenen Philologin Judit Kecskeméti wirft einen weitgerichteten Blick auf die griechische paideia von ihren Anfängen bis in die Zeit der europäischen Renaissance. Der Autorin gelingt es, einen Einblick zu geben in die komplexe und vielfältige, sich häufig wandelnde Geschichte der »griechischen Kultur«, was sie als äquivalente Übersetzung anbietet (S. 233). Das Buch zeichnet sich vor allem durch eine extensive Wiedergabe der Quellentexte in Übersetzung wie im Original aus; das vereinfacht die Nachvollziehbarkeit der Argumentation deutlich und vermittelt zudem einen Eindruck davon, wie mit Primärquellen gearbeitet wird.
Judit Kecskeméti zeichnet sich zweifellos durch eine herausragende Kenntnis der griechischen Antike aus, die auch den Großteil des Buches einnimmt – nach der Hälfte der Lektüre ist die Leserin bzw. der Leser gerade erst bei Platon angelangt. Die sehr ausführliche Abhandlung der antiken, vor allem griechischen Autoren führt aber auch zu einem Ungleichgewicht in der Darstellung. Trotz der Expertise der Autorin im Bereich der frühen Drucke und der Literatur des Humanismus werden die römischen Autoren, die Kirchenväter wie auch die Humanisten eher holzschnittartig und oberflächlich behandelt. Auch das hellenistische Judentum, das immerhin im Titel genannt wird, erscheint auf gerade einmal neun Seiten (S. 159–167).
Judit Kecskeméti beginnt ihre Abhandlung mit einer knappen Erklärung des Begriffs paideia und dem Hinweis, dass dieser in jeder Epoche und bei jedem Autor eine andere Bedeutung besaß (S. 11)1. Dann wirft sie einen Blick auf die früheste uns überlieferte Literatur, die Ilias und die Odyssee, und kann, obwohl Homer das Wort paideia nicht verwendet, überzeugend darlegen, wie sich erste Konzepte von Lüge und Wahrheit, von Schicksal und des »von Sinnen sein« herauskristallisierten (S. 17). Über die Poesie schlägt sie einen Bogen zu den Anfängen der griechischen Philosophie. Nun befindet man sich endgültig mitten in der Geschichte der paideia, die von den Philosophen entwickelt und geprägt wurde – mit Wirkung weit über die Landes- und Epochengrenzen hinaus.
Spätestens mit den Sophisten, mit Sokrates, Platon und Aristoteles fand eine Diskussion darüber statt, was der Mensch wissen und lernen muss, um ein Ziel – sei es rhetorische Brillanz, ein tugendhaftes Leben oder die Glückseligkeit – zu erreichen. Ab diesem Zeitpunkt standen vor allem Rhetorik, die Kunst des Redens und Argumentierens, sowie (praktisch anwendbare) Tugend und Bildung (mindestens im Sinne einer Weitergabe von Wissen) im Zentrum der griechischen paideia (S. 137).
Mit der Zweiten Sophistik rückte die Frage nach praktischer Tugendhaftigkeit in den Hintergrund, und der Stil des Rhetors wurde zum zentralen Element des Verständnisses von griechischer paideia: Judit Kecskeméti betont vor allem das Element der Imitation, der mimesis; Nachahmung wurde essenzieller Bestandteil von griechischer Bildung2. Die Autorin unterstreicht zudem, dass die Zweite Sophistik zwar vor allem in Rom populär war und dort viele Vertreter wie Anhänger hatte, aber dennoch Griechenland als Sitz der paideia galt – Zentrum blieb also der Ort der Entstehung (S. 150). Durch die Bedeutung des rhetorischen Stils wurde auch die Überlieferung von Literatur immer zentraler – denn nur von den griechischen Autoren kann der gute Stil erlernt werden.
Der Einfluss griechischer paideia auf die jüdische Literatur wird knapp abgehandelt, wobei die Autorin sich auf die Septuaginta bzw. den Aristeas-Brief, Hekataios von Abdera, Philon von Alexandrien und Josephus beschränkt, ohne diese Auswahl zu begründen. Es kämen noch andere Autoren infrage – Artapanos zum Beispiel oder der Tragiker Ezekiel. Auch vermisst die Rezensentin beim anschließenden Sprung zu den (frühen) Kirchenvätern und christlichen Autoren einen Zusammenhang oder eine Verbindung zu den hellenistisch-jüdischen Autoren; Judit Kecskeméti geht lediglich von der Auseinandersetzung mit den römischen und griechischen (paganen) Autoren aus. Bei paideia im Sinne einer Wissensvermittlung ging es den meisten der frühchristlichen Autoren nicht um rhetorische Blendung, sondern die griechische Bildung oder paideia bildete nur den Anfang, das Grundgerüst für die Auseinandersetzung mit dem wahren paidagogos, nämlich dem logos Gottes (Clemens von Alexandrien z. B.).
Judit Kecskeméti stellt am Ende ihrer ausführlichen Analyse der (frühen) christlichen Texte fest, dass trotz zahlreicher Verurteilungen, ja scharfer Verdammung der griechischen Philosophie und Literatur sich nahezu alle großen christlichen Autoren ihrer Mittel bedienten, vor allem der Rhetorik und der Konzentration auf Tugend (in völlig anderer Bedeutung), um ihre Ziele zu erreichen (S. 195). Die kritische Auseinandersetzung mit griechischer paideia führte also gerade nicht zu ihrem Ausschließen und zur Entwicklung eines neuen Konzepts. Es wurde lediglich der Zweck, nicht das Mittel selbst abgelehnt.
Die Autorin springt sodann in ihrer Untersuchung von Porphyr zu Erasmus von Rotterdam, was die Leserin bzw. den Leser etwas verwundert über die zwischen den beiden Autoren liegende lange Zeitspanne zurücklässt. Wichtig scheint ihr der Punkt zu sein, dass mit Erasmus und mit dem Beginn des Humanismus die griechische paideia im Sinne griechischer Kultur und Bildung wieder eine (neue) Blütezeit erlebte, die sich nicht nur in einer ausgedehnten Rezeption antiker griechischer Autoren niederschlug3, sondern auch die griechische Rhetorik erneut stilbildend werden ließ. Das Griechische wird für seine Ausdrucksstärke, Schönheit und Präzision wertgeschätzt und bewundert. Besonderes Gewicht hatten bei dieser Entwicklung laut Judit Kecskeméti die Druckereien und Druckermeister, die zahlreiche Wörterbücher und Grammatiken verlegten. Einige Druckermeister nahmen innerhalb dieser Bewegung eine zentrale Rolle ein: So konnte Guillaume Budé beim französischen König die Einrichtung des Collège Royal (1530) erwirken, in dem zahlreiche, nicht an der Sorbonne vertretene Disziplinen unterrichtet wurden (S. 219).
Erst im Fazit kommt die Autorin doch noch sehr kurz auf die Rezeption und Entwicklung der paideia in Byzanz zu sprechen. Zwar postuliert sie an früherer Stelle (S. 207), dass die intellektuelle Verbindung zwischen Byzanz und dem Westen nie abgerissen sei, doch erscheint dieser wenige Seiten umfassende Anhang mehr als Pflicht denn als Kür. Für Leserinnen und Leser, die mit der großen Thematik nicht sehr vertraut sind, wäre ein Sichtbarmachen dieser Verbindungen und Bezugnahmen hilfreich gewesen. Die Bibliografie beschränkt sich auf wenige, meist einschlägige Titel und trotz oder gerade wegen der ausführlichen Verwendung der Quellentexte kommt die Einbindung und Rezeption der (aktuellen) Sekundärliteratur etwas zu kurz und lässt das Buch insgesamt eher deskriptiv und wenig analytisch erscheinen. Methodischer Zugriff und Stoffauswahl werden nirgends näher begründet, weswegen die Darstellung mitunter etwas windschief daherkommt; ebenso seltsam mutet der Aufruf zur Verteidigung der griechischen paideia auch in unserer heutigen Zeit an (S. 231f.). Dennoch ist es der Autorin gelungen, sich dem nahezu unüberschaubaren Thema gewinnbringend zu nähern, und das Buch ist, trotz der angeführten Mängel, eine anregende Lektüre, was vor allem die griechische Antike angeht. Insbesondere der Teil zu Homers paideia-Begriff und auch die Rolle der Druckermeister kann Judit Kecskeméti knapp, aber präzise darlegen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Judith Göppinger, Rezension von/compte rendu de: Judit Kecskeméti, La Paideia grecque. Son parcours jusqu’à la Renaissance par l’entremise de Juifs héllénisés et des Pères grecs de l’Église. Avant-propos par Luigi-Alberto Sanchi, Paris (Honoré Champion) 2020, 254 p. (Bibliothèque des religions du monde, 7), ISBN 978-2-7453-5417-4, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83612