Die Monografie präsentiert Ergebnisse einer 2016 an den Universitäten Sorbonne Université und Gent abgeschlossenen Dissertation und wird durch Élisabeth Crouzet-Pavan und Marc Boone kurz vorgestellt. Auf die Einleitung der Autorin, Irène Dietrich-Strobbe, folgen sechs durch eine Zusammenfassung abgeschlossene Kapitel und eine Gesamtbilanz. Als Überschriften dienen durch Untertitel erläuterte Zitate wie z. B. »›Plus receu que payé‹. L’inégale richesse des institutions charitables«; »›Pour Dieu en aumosnes et à la requeste d’aulcuns noz especiaulx serviteurs‹. Patronage et courtage dans les institutions charitables lilloises«; »›Si ce de nostre grace et convenable remede n’estoit‹. Pouvoirs et institutions charitables, une histoire heurtée«.

Diese Titelgebung fordert dazu auf, genauer hinzuschauen – ebenso wie der Untertitel des Buches, »Sauver les riches« (»die Reichen retten«). Die Autorin provoziert mitunter gezielt, um althergebrachte Klischees effektiver infrage zu stellen. Auch in Lille richteten sich Fürsorgemaßnahmen natürlich an Bedürftige – aber sie dienten auch dem Seelenheil der Reichen, ihrer Rettung im Jüngsten Gericht und der Memoria, dem sozialen Ansehen, der Statussicherung oder Aufstiegsambitionen der Stifter und der Sicherung des sozialen Friedens.

Bezüglich des letzten Punktes gilt Lille traditionell als Ausnahme. In Gent, Brügge, Antwerpen und weiteren Städten der Grafschaft Flandern kam es durchschnittlich alle sieben Jahre zu Revolten, Aufständen oder sozialen Unruhen. In Lille gab es keine revolutionäre Tradition. Marc Boone zufolge wird es üblicherweise als »havre de paix sociale et politique« beschrieben (S. 13). Diesen Aspekt greift Irène Dietrich-Strobbe in ihrer Einleitung auf: Im Gegensatz zum übrigen Flandern sei für das Mittelalter das ruhige, den burgundischen Herzögen treue Lille in der Forschung nur auf relativ geringes Interesse gestoßen.

Dennoch handelt es sich um einen äußerst interessanten Fall: als französischsprachige Stadt in Flandern in strategisch wichtiger Lage zwischen dem Königreich Frankreich und dem niederländischen Sprachraum, als Sitz bedeutender Institutionen wie der herzoglichen Chambre des comptes, als oft besuchte Residenz, als Stadt in der Diözese Tournai, die von den Grafen von Flandern, den französischen Königen und den Herzögen von Burgund aus den Häusern Valois und Habsburg regiert wurde (S. 41).

Nach Ansicht der Forschung trugen die komplizierte politische Situation Lilles und die Tatsache, dass dort die Stadtregierung (magistrat) seit 1235 alljährlich nicht gewählt, sondern vom Grafen von Flandern eingesetzt wurde, sowie die auf mehreren Sektoren beruhende wirtschaftliche Stärke zu der beschriebenen Ruhe bei. Das Buch verfolgt das Ziel, die Stichhaltigkeit solcher Erklärungen und weiterer Thesen zu überprüfen (wie der als Leitmotiv der französischen Forschung bezeichneten municipalisation [Kommunalisierung] und laïcisation [Laizisierung, »Verweltlichung«] der Hospitäler bzw. die Tendenz der älteren, frankreichzentrierten Forschung, diese Entwicklungen und Zentralisierungsbestrebungen als »Fortschritt« zu deuten, S. 27). Der chronologische Rahmen reicht von 1237, dem Jahr der Gründung des Hospitals Notre-Dame durch Johanna von Konstantinopel, Gräfin von Flandern, bis 1520, als Kaiser Karl V. entschied, die Fürsorgeeinrichtungen der Pfarrgemeinden zu zentralisieren und unter die Aufsicht des échevinage zu stellen.

Die Einleitung vermittelt einen Überblick über den Forschungsstand und die Hospitallandschaft von Lille: Das nach seiner Gründerin auch als »hôpital Comtesse« bezeichnete Hospital Notre-Dame war, mit ca. 30 Betten, die bedeutendste Einrichtung. Am Ende des 13. Jahrhunderts verfügte Lille über sieben auf der Ebene der Pfarrgemeinden organisierte Einrichtungen der Armenfürsorge und, am Anfang des 16. Jahrhunderts, bei einer hohen Schätzungen zufolge ca. 25 000 Einwohner zählenden Bevölkerung über 16 Hospitäler (S. 34–35, 190). Als Quellengrundlage der Studie dient umfangreiches Archivmaterial: der ausgedehnte Bestand des Hôpital Comtesse (mit seit 1467 überlieferten Konten als Ausgangspunkt der Untersuchung), Konten weiterer Hospitäler und Stiftungen, Urkunden, Prozesse, Verordnungen, Quellen aus der Überlieferung des Kapitels Saint-Pierre, Testamente, ikonografische Quellen usw.

Das erste Kapitel stellt die Frage nach der Auswahl und den Typen von Bedürftigen, deren Definition und diesbezüglichen Verfahren. Dabei konnte schon die Regelung des Zugangs zur Stadt durch bewachte Tore eine Rolle spielen. Das zweite Kapitel widmet sich dem Zusammenhang zwischen Armenfürsorge und Memoria der Stifter (u. a. Ikonografie, epigrafische Zeugnisse, Glocken). Das dritte Kapitel untersucht den sehr ungleich verteilten Reichtum der Institutionen und ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in Stadt und Umland (Grundbesitz, Verpachtung, Getreideproduktion und -handel, Mühlen, Fischereirechte etc.). Dabei spielte der Umfang der Ausstattung durch die jeweiligen Stifter eine wichtige Rolle. Die jährlichen Konten schlossen mit der Formel plus receu que payé. Es galt, Defizite zu vermeiden (oder es zumindest so darzustellen) und zur dauerhaften Unterhaltssicherung möglichst Gewinne zu erzielen.

Die Autorin spricht deshalb von »véritables entreprises de charité« (S. 261). Die Anzahl der von den Hospitälern vermieteten Häuser vermittelt einen Eindruck von Unterschieden: 1467–1517 besaß das Hôpital Comtesse in Lille bis zu 63 zu Wohnzwecken vermietete Objekte, das Hospital Saint-Julien nie mehr als zehn und das nach seinem Gründer Jean Gantois, einem Bürger der Stadt, benannte Hôpital Gantois nur ein einziges, dessen Sohn überlassenes Haus (S. 258f.). Anders als in Italien beteiligten sich die Hospitäler nicht am Kreditmarkt, ihre Haupteinkünfte stammten aus Grundbesitz. Das vierte Kapitel vertieft wirtschaftliche Aspekte (Rolle als Arbeitgeber, Bautätigkeit, Beteiligung am Markt, Beitrag zur städtischen Versorgungssicherung, Vorratshaltung, Konsum von Nahrungsmitteln, Textilien, Kleidung, Schuhen, Kunstgegenständen wie Reliquiaren, Büchern, vorhandene Abgabenbefreiungen etc.).

Die letzten beiden Kapitel beziehen politische Aspekte ein: Patronage und Courtage/Maklerdienste (Begriffsdefinitionen S. 339f.), Analyse von familiären und sozialen Netzwerken (z. B. Patriziat, Fürstendiener, Amtsträger von gräflichen/herzoglichen Institutionen, besonders der Chambre des comptes). Im Mittelpunkt stehen die Verwalter der karitativen Institutionen, ihre familiären und beruflichen Verflechtungen, Karrierewege, möglicher Nepotismus bei der Vergabe von Hospitalämtern und -plätzen, geistliche Kompetenzkonflikte (z. B. zwischen Hospitalkapellen und Pfarrkirchen), die Herkunft von Hospitalstiftern/-stifterinnen (z. B. der als »hôpitaux dynastiques« bezeichneten stadtbürgerlichen Stiftungen von Jean Gantois und Phane Denise, die deren Familien eine besondere Rolle einräumten); Versorgung illegitimer Söhne mit Geldeinehmerposten, Rolle verschiedener Schichten (Patriziat, notabilité). Anders als in den benachbarten Städten traten in Lille Handwerkskorporationen nicht als Hospitalträger auf.

Das letzte Kapitel analysiert die Beziehungen der karitativen Einrichtungen zur Macht und stellt Folgen der komplizierten politischen Lage und von Machtwechseln vor. Besonders am Ende des 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts konnten die Herzöge erheblich von Hospitälern und Eingriffen in die Verwaltung der Armenfürsorge profitieren. Obwohl sie eine entscheidende Kontrolle ausübten, wahrten sie der Verfasserin zufolge dennoch eine »juste distance«, um nicht allzu sehr in innerstädtische Konflikte hineingezogen zu werden. In ihrem Vorwort bringt Élisabeth Crouzet-Pavan diese Entwicklungen sehr treffend auf den Punkt: Die fortschreitende Laizisierung der Armen- und Krankenfürsorge Lilles entspreche durchaus allgemeinen Entwicklungslinien, sei aber auch atypisch: »atypique parce qu’opéra dans ce milieu une ›ducalisation‹, pour reprendre le terme forgé par la chercheuse, et non une municipalisation« (S. 23).

Alles in allem handelt es sich um ein hochinteressantes Buch, das einen äußerst wichtigen und innovativen Beitrag zur Erforschung städtischer mittelalterlicher Armen- und Krankenfürsorge und deren Methodik bietet. Besonders hervorzuheben ist die fruchtbare Kombination französischer und belgischer Forschungstraditionen und die Auswertung mehrsprachiger Quellen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gisela Naegle, Rezension von/compte rendu de: Irène Dietrich-Strobbe, La Charité à Lille à la fin du Moyen Âge. Sauver les riches. Préface d’Élisabeth Crouzet-Pavan, Paris (Classiques Garnier) 2020, 605 p., 14 fig. (Bibliothèque d’histoire médiévale, 24), ISBN 978-2-406-09405-0, EUR 59,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83618