Eine personale Beziehung, der man eine ganz besonders große Rolle in der Geschichte des Mittelalters zuschreibt, ist die Abstammungsverwandtschaft. Von ihr aus lassen sich mehrere elementare Strukturen und Muster ableiten, sei es in der »Kernfamilie« als »Erzeugergemeinschaft« und dominantem primären Lebensumfeld, in »Dynastie« und »Adelshaus« als sozial und politisch wirksamen, historisch verankerten Linien oder aber in der frühmittelalterlichen gens als durch Abstammungsgemeinschaft geformte ethnische Gruppierung. Im Unterschied zu »gemachten Verwandtschaften« wie Verschwägerung, Adoption etc. setzt sie für das Individuum keine aktive Beteiligung voraus, sondern wird ihm als biologische Gegebenheit qua Geburt zugeschrieben. Es ist eben diese Konstellation, die historisch arbeitenden Disziplinen neue Anstöße verspricht durch eine Wissenschaft, deren Verwertbarkeit man bislang eigentlich weitestgehend außerhalb des eigenen, vornehmlich sprachauswertend vorgehenden Arbeitsbereiches sah: der Genetik. Die Auswertung alter DNS, für die sich die angelsächsische Bezeichnung »ancient DNA« bzw. »aDNA« durchgesetzt hat, hat in jüngerer Zeit den Bereich der »Vorgeschichte« verlassen und liefert neue Informationen, über deren Beschaffenheit und Aussagekraft sich Historikerinnen und Historiker am besten frühzeitig genug ein Bild machen, bevor die zu erwartende Datenflut eine unreflektierte Eigendynamik gewinnen kann.

Es ist das Anliegen des hier anzuzeigenden Werkes, das die ausgearbeitete Fassung des Jahresvortrags 2020 beim Mittelalterzentrum der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften darstellt (zu hören unter https://www.bbaw.de/mediathek/archiv-2020), hierzu einen Beitrag zu liefern. Zugleich wird damit transparent gemacht, mit welchen Absichten, Vorannahmen und Reflexionen der ERC Synergy Grants »HistoGenes« seine ebenfalls im Jahr 2020 begonnene Arbeit angeht. Geary schätzt das Potenzial der »ancient DNA-Revolution« hoch ein, zumal nunmehr die »tatsächlichen Bevölkerungsgruppen« (S. 10) objektivierbar sind, was dazu führt, dass etwa die gentes des Frühmittelalters weder als unhistorische Rückprojektionen aktueller Völker oder gar »Rassen« verstanden werden müssen (Kap. 1) noch allein als postulierte, allerdings schwierig zu verifizierende komplexe Identitätskonstruktionen (Kap. 2).

Gewiss ist dem Autor bewusst, dass Genomdaten, die ja nicht allein Aussagen über Abstammung, sondern zugleich auch über Ernährung, Gesundheit, körperliche Aktivität und Mobilität ermöglichen, nicht für alle Felder der Geschichtswissenschaft Relevanz beanspruchen können, doch werden die Felder der Migrations-, Sozial- und Siedlungsgeschichte sich ganz wesentlich mit den neuen Erkenntnissen auseinanderzusetzen haben. Der Chance auf Erkenntnisgewinn steht die Gefahr einer neuen »Essentialisierung« gegenüber, ein »Neo-Kossinismus«, bei dem die von Kossina praktizierte Schädelvermessung durch Gensequenzierung ersetzt und »Völker« oder gar »Rassen« als biologische Entitäten postulierbar werden (Kap. 3). Dieser Gefahr kann jedoch nach Auffassung des Autors (und dem Programm von HistoGenes) entgegengetreten werden, indem Genetikerinnen und Genetiker bei der Arbeit mit historischer DNA unterstützt werden von Historikern, Archäologen und Sprachwissenschaftlern. Dieses Programm einer »neuen integrierten genomischen Methodik« (Kap. 4) verlangt eine zumindest grundsätzliche Kenntnis der Grundlagen und Möglichkeiten der Genomanalyse, die im – für den Rezensenten wie wohl die meisten Fachhistorikerinnen und -historiker – am stärksten fordernden Abschnitt geboten wird (Kap. 5). Einige Beispiele aktueller Untersuchungen beschließen den Band (Kap. 6).

Die Vorstellung des neuen Forschungsfeldes, die aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive abgeleitete Warnung vor simplifizierender Ausdeutung und der Appell an eine wahrhaftige Multidisziplinarität als Gegenmittel – diese drei Ziele erreicht das äußerst flüssig geschriebene, schnörkellos argumentierende Werk ohne Zweifel. Inwiefern sein Anliegen eine größere Anzahl von Historikern jenseits der doch überschaubaren Gemeinde der mit Migrationsgeschichte befassten Frühmediävisten erreicht, muss sich ebenso erweisen wie der Erfolg des angemahnten Vorgehens. Die Argumente sind triftig, das Anliegen nachvollziehbar, und das Statement erscheint zum richtigen Zeitpunkt – mehr kann ein Autor im Grunde nicht leisten.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Gerhard Lubich, Rezension von/compte rendu de: Patrick J. Geary, Herausforderungen und Gefahren der Integration von Genomdaten in die Erforschung der frühmittelalterlichen Geschichte, Göttingen (Wallstein) 2021, 60 S., 5 Abb. (Das mittelalterliche Jahrtausend, 7), ISBN 978-3-8353-3871-5, EUR 16,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83619