Diese Abtei vom Heiligen Geist besteht nicht aus Steinen, sondern aus Worten. Es handelt sich um einen kurzen allegorischen Text in der französischen Volkssprache, der sich an geistliche Frauen richtet. Mit seiner Hilfe kann die Leserin meditierend durch imaginierte Räume schreiten, und sie wird von Verkörperungen der Tugenden zu einem Leben in Buße und Askese angehalten. Janice Pinder, Romanistin von der Monash University in Melbourne, legt (im Anschluss an ältere Studien, namentlich der französischen Philologin Geneviève Hasenohr) die Ergebnisse akribischer Text- und Quellenvergleiche und eingehender Handschriftenstudien vor, stellt neue Thesen zur Überlieferungsgeschichte auf und ediert – erstmals – fünf verschiedene Versionen des Textes. Sie entstanden zwischen dem ausgehenden 13. bis in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts und zeugen von der Popularität dieser frommen Lektüre.

Dies belegen auch die immerhin 13 erhaltenen Handschriften, zu denen noch eine fragmentierte Überlieferung (Fassung Delta) sowie zwei kriegszerstörte Manuskripte zu zählen sind. Sie enthalten durchweg sorgfältig arrangierte und bisweilen aufwendig illuminierte Zusammenstellungen von Andachtsliteratur, in deren Kontext die Abtei gestellt wird und so in einem größeren frömmigkeitsgeschichtlichen Rahmen untersucht werden kann. Die Analyse ganzer Handschriften wird hier als »New Philology« der »recent years« bezeichnet (S. 7 mit Anm. 21), obwohl dieser methodische Ansatz in der Kanonistik seit mehr als einem halben Jahrhundert üblich ist (Raymund Kottje, Hubert Mordek und die Pseudo-Isidor-Forschung) und auf Englisch z. B. von Roger E. Reynolds in seinen liturgiewissenschaftlichen Studien praktiziert wurde.

Die frühesten Handschriften der Abtei entstanden um 1300 und enthalten bereits zwei Redaktionen. Die Version Alpha wurde von Metz und Lüttich über weite Regionen Nordostfrankreichs und Walloniens verbreitet; die Version Beta war im Pariser Raum beheimatet. Bei der Frage der Priorität entscheidet sich Janice Pinder für die Alpha-Version, die ihr zufolge um 1270/1280 entstanden sein könnte.

Im ersten Kapitel werden die literarischen Vorbilder des Textes vorgestellt, die alle aus dem monastischen Bereich stammen, darunter lateinische Meditationen zum »claustrum anime« sowie eine Texttradition aus dem zisterziensischen Kontext mit dem Thema des von Tugenden bevölkerten Frauenklosters. Die eigenständige Kompilation der Abtei gehört zu einem im Spätmittelalter aufblühenden Genre: Klösterliches Gedankengut, das ursprünglich für Novizen beiderlei Geschlechts formuliert worden war, wird nunmehr auch an Laien vermittelt und betont innere Disziplin und Frömmigkeit, die sich im äußeren Verhalten widerspiegeln sollen.

Die folgenden fünf Kapitel sind jeweils einer Textversion der Abtei gewidmet, deren Entstehung, Überlieferung und Adressaten diskutiert werden. Angelehnt an die Handschriften erhalten die fünf Versionen zur Unterscheidung leicht modifizierte Namen. Die Janice Pinder zufolge älteste α1-Fassung »La religion dou cuer de l’abbaie dou saint esprit« (Kap. 2) richtet sich im Prolog an Frauen, die aus Mangel an Eintrittsgeld oder wegen einer bestehenden Ehe nicht in ein Kloster eintreten können und daher als Laien in der Welt ein religiöses Leben führen möchten.

Die Überlieferungszusammenhänge mit anderen Werken geistlicher Lyrik und Prosa verweisen auf »beguine spirituality«, und ein früher Textzeuge aus Metz ist laut Geneviève Hasenohr »commissioned for a specific audience of beguines«; allerdings stammen zwei Handschriften aus Klöstern der Benediktinerinnen (S. 43f.). Janice Pinder sieht in den Adressatinnen »a wide public of laypeople with religious aspirations« (S. 51) und nicht nur Beginen. Von der α1-Fassung sind abgeleitet eine englische Übersetzung (nicht Gegenstand dieses Bandes) sowie zwei Überarbeitungen des 15. Jahrhunderts (Kap. 5 und 6). »La religion du benoit saint esprit« (γ) wurde bearbeitet für Angehörige des Klarissenordens und betont die Werte von Ordnung und Disziplin in der imaginierten Abtei des Herzens. Eine weitere Fassung »L’abbaye du saint esperit« (α2) entstand für Margarethe von York, Gattin Karls des Kühnen, die den burgundischen Hofschreiber David Aubert mit der Herstellung der Handschrift beauftragte; sie ist auf 1475 datiert.

Ebenfalls für ein hochadliges Publikum waren die beiden Beta-Versionen des Textes bestimmt (Kap. 3 und 4). Das Manuskript mit der Fassung »La sainte abbaye« (β1) entstand Ende des 13. Jahrhunderts in Paris für die Zisterzienserinnenabtei Maubuisson (Notre-Dame-la-Royale) in Saint-Ouen-l’Aumône, eine Gründung der Königin Bianca von Kastilien. Diese Version wurde in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts umgearbeitet zu »Le cloistre de l’ame« (β2), überliefert im Zusammenhang mit Spiegelliteratur für adlige Damen; eine Handschrift stammt aus der Bibliothek des Herzogs von Berry.

Im Schlusswort hält Janice Pinder fest, dass die Abtei mit einer etwa zweihundertjährigen Geschichte der Anpassung an neue Leserinnen sowie der Einpassung in neue Textkompilationen Teil einer erheblichen Produktion von Devotionsliteratur war, die von Autorinnen, Übersetzerinnen und geistlichen Seelenführern stammte. Die Abtei erwies sich als besonders anpassungsfähig, weil sie auf spirituelle Innerlichkeit gerichtet war und auf die Vorschrift konkreter Tagesabläufe und Gebetsleistungen verzichtete. Die Baumethapher »remained a powerful symbol of interior self-fashioning for both religious and lay« (S. 126).

Eine solche Untersuchung und vor allem die nun erstmals vorliegenden Editionen markieren gewiss nicht das Ende der wissenschaftlichen Diskussion. Nicht abschließend geklärt scheint die Frage nach der ursprünglichen Fassung. Bisher galt der Text für die adligen Nonnen β1 als Ausgangspunkt (vgl. S. 74). Janice Pinder zieht α1 vor, weil diese Version weitaus verbreiteter und einflussreicher war. Das aber ist kein zwingendes Argument. Ausgehend von der Verankerung der Versionen in der Gesellschaft scheint es naheliegender, dass eine Meditation für vornehme Nonnen, deren Allegorien dem monastischen Bereich entstammen, für Frauen »in der Welt« angepasst wurde, als dass ein Text aus bürgerlich-beginalem Milieu für Damen des Hochadels adaptiert wurde.

Freilich ist auch dieses Argument ist nicht zwingend, denn im Fall der Version für Margarethe von York ist genau dies geschehen. Es ist allerdings möglich, dass Margarethe eine Alpha-Vorlage aus ihrer englischen Heimat vermittelt wurde, wo eine solche der englischen Übersetzung zugrunde lag, und ihr die Beta-Version nicht bekannt war. Zudem ist fraglich, ob man wirklich von der Fiktion eines einzigen Archetyps ausgehen sollte, statt von vornherein zwei Fassungen zu postulieren, die für unterschiedliche soziale Milieus formuliert wurden, sich aber beide an fromme Damen richteten, die nach anspruchsvoller geistlicher Lektüre verlangten und für sich bzw. ihre Gemeinschaften entsprechende Handschriften erwerben konnten.

Die sich überschneidenden Sphären des Klosters und der Laienfrömmigkeit dieser Zeit bedürfen noch weiterer Untersuchungen, die fachübergreifend diskutiert werden sollten. Janice Pinder verweist im Hinblick auf die Umgebung der Entstehung der Abtei auf die frommen Frauen von Lüttich und ihre Spiritualität, indes ohne einschlägige Literatur wie den Sammelband von Juliette Dor u. a.1. In diesem Band zeigt Penelope Galloway in ihrem Beitrag »Neither miraculous nor astounding. The devotional practices of beguine communities in French Flanders«, dass die Vorstellung einer Beginenspiritualität, wie sie in der Forschung anhand einiger weniger Charismatikerinnen konstruiert wurde (Mechthild von Magdeburg, Hadewijch, Juliana von Cornillon usw.), mit den Praktiken »normaler« Beginen wenig zu tun hat. Last, but not least gibt die vorliegende Studie viele Anregungen und macht auch neugierig auf die Miniaturen – leider enthält die Publikation keine Abbildungen. Hier bietet sich noch ein weites Feld der interdisziplinären Forschung.

1 Juliette Dor, Lesley Johnson, Jocelyn Wogan-Browne (Hg.), New Trends in Feminine Spirituality. The Holy Women of Liège and Their Impact, Turnhout 1999 (Medieval Women, 2).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Letha Böhringer, Rezension von/compte rendu de: Janice Pinder, The Abbaye du Saint Esprit. Spiritual Instruction for Laywomen, 1250–1500, Turnhout (Brepols) 2020, XIV–220 p., 1 b/w ill., 2 b/w tables (Medieval Women: Texts and Contexts, 21), ISBN 978-2-503-58681-6, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83635