Die 262 Hexameter, die der Reichenauer Mönch Walahfrid Strabo im Jahr 829 über ein Reiterstandbild Theoderichs des Großen († 526) schrieb, sind alles andere als leichte Kost. Nach seiner Kaiserkrönung hatte Karl der Große die imposante Bronzestatue, die ganz mit Gold überzogen war, aus Ravenna abtransportieren und in seiner Aachener Pfalz aufstellen lassen. Offensichtlich hatte das Abbild Theoderichs in der Folge keinen leichten Stand, denn Walahfrids Gedicht gibt Zeugnis davon, dass sich manch einer im Hofstaat am Anblick des Gotenkönigs stieß. Das ist kaum verwunderlich, galt der Amaler vielen Nachgeborenen bekanntlich als gottverhasster Ketzer und mordender Tyrann, mithin als Inbegriff des schlechten Herrschers. Der Dichter nennt den Goten denn auch gar nicht beim Namen, sondern nutzt stattdessen das Pseudonym Tetricus (von lat. taeter, dt. düster, garstig, abscheulich), das lautlich eng an Theodericus angelehnt ist.

Dem gerade 21-jährigen Walahfrid, wegen seines außergewöhnlichen dichterischen Talents am Aachener Hof Ludwigs des Frommen (814–840) tätig, kam die undankbare Aufgabe zu, den problembeladenen Assoziationen, die man im karolingischen Machtzentrum mit der Statue verband, in Versen Ausdruck zu geben. Die Reiterstatue diente dem Dichter hierbei freilich nur als Aufhänger, sie stand stellvertretend für vieles, was an der Herrschaft Karls mittlerweile als kritikwürdig galt. Walahfrid brachte das Kunststück fertig, diese Kritik in Worte zu kleiden, ohne den großen Karl dabei direkt beim Namen zu nennen.

Tino Licht, Professor für Mittel- und Neulatein an der Universität Heidelberg, hat nun eine begrüßenswerte Untersuchung des schwierig zu deutenden Gedichtes vorgelegt. Neben einer Neuedition mit deutscher Übersetzung enthält der Band eine umfangreiche Einführung und einen textkritisch-historischen Kommentar. Verdienstvoll ist die Publikation nicht zuletzt deshalb, weil sie auch »Neulingen«, die mit Walahfrids eigenwilliger Dichtung nicht vertraut sind, eine Menge von Hintergrundinformationen an die Hand gibt, die zur Lektüre von »De imagine Tetrici« unverzichtbar sind. Gleichwohl beschränkt sich Licht in seinen Erläuterungen nicht auf Altbekanntes, sondern steuert eine Vielzahl neuer Erkenntnisse bei, die hier freilich nur selektiv gewürdigt werden können.

Text und Übersetzung beanspruchen naturgemäß nur einen Bruchteil des handlichen Bändchens (S. 77–97), viel Raum ist dagegen der literaturgeschichtlich-historischen Einleitung und dem hilfreichen Kommentar belassen (S. 12–76, 98–117).

Zu Beginn geht Licht auf die Überlieferungslage – das Gedicht ist unikal im Sankt Galler Codex 869 (um 900), pagg. 143–163, erhalten – und auf die bisherigen Editionen und Drucke ein. Mit dem erklärten Ziel, »einen verläßlichen Text herzustellen, eine Übersetzung anzubieten, die nicht in die Sackgasse etablierter Vorstellungen gerät« (S. 10), orientiert sich Lichts Edition »weitmöglich« an Wortlaut und Versfolge des Sangallensis, in betontem Gegensatz zur Edition, die Michael W. Herren vorgelegt hat (The »De imagine Tetrici« of Walahfrid Strabo. Edition and Translation, in: The Journal of Medieval Latin 1 [1991], S. 118–139).

Im Gegensatz zur bisherigen Literatur meint Licht, dass die aus Z. 52f. und 63 gefolgerte schwarze Begleitfigur Theoderichs eine Kopfgeburt der Forschung sei (vgl. S. 21f. und 102f.). Lichts diesbezügliche Argumentation ist durchaus nachvollziehbar, ob die Schlussfolgerung aber zwingend ist, sei dahingestellt.

Nützlich ist sicher die Entscheidung, die im Manuskript in Capitalis rustica ausgeführten Auszeichnungsverse in der Edition durch Fettdruck zu markieren, sowie auf wichtige Textzitate und Anspielungen Walahfrids in margine zu verweisen. Da Licht nicht alle von früheren Editoren identifizierten – oder auch nur vermuteten – Anspielungen in seinen Kommentar aufnimmt, ist es nach wie vor ratsam, neben der Neuedition auch die MGH-Ausgabe von Ernst Dümmler (Poetae Latini aevi Carolini, Bd. 2, S. 370–378) sowie die bereits genannte Ausgabe von Herren heranzuziehen.

Auf breitem Raum widmet sich Licht der – für das Verständnis des Gedichts nicht unwichtigen – Frage, weshalb Karl überhaupt auf die Idee kam, das von Agnellus (»Liber Pontificalis Ecclesiae Ravennatis«, Kapitel 94) beschriebene Reiterstandbild Theoderichs nach Aachen zu holen. Licht sieht dies als Ausdruck von Karls affirmativer »Haltung zur volkssprachlichen Kultur«, die bei Einhard ja explizit bezeugt ist. So wurde Theoderich bereits früh mit dem Helden der Dietrichsage identifiziert und wurde somit – in markantem Gegensatz zur »gelehrten« mittelalterlichen Rezeption – auch während des Frühmittelalters durchaus nicht nur negativ gesehen: »Die Reiterstatue Theoderichs [bzw. deren Aufstellung in der Aachener Pfalz] ist ein Symptom dieser Haltung zur volkssprachlichen Kultur, auch wenn das nicht bei allen gut ankam und nach Karls Tod nachlassenden Beifall fand« (S. 36).

Die in der Forschung wiederholt vertretene These, Walahfrids Gedicht sei der Bukolik zuzuordnen, weist Licht mit guten Gründen zurück. Stattdessen macht er, was bisher nicht in diesem Maße gewürdigt wurde, auf den Vorbildcharakter der »Psychomachie« des Prudentius aufmerksam. Einen sicheren Beleg, dass Walahfrid bei seiner Arbeit tatsächlich auf ein Exemplar der »Psychomachie« zurückgriff, kann Licht in einem bisher übersehenen wörtlichen Prudentius-Zitat (vgl. Z. 128–130) benennen. Daneben macht Licht auf eine Anleihe aus der »Vita Columbani« des Jonas von Bobbio aufmerksam und betont – im Anschluss an Ludwig Traube – die wahrscheinlich durch Hrabanus Maurus vermittelte Lukrez-Rezeption bei Walahfrid. An mehreren Beispielen vermag Licht außerdem zu illustrieren, dass der junge Mönch ein beeindruckendes Repertoire verschiedener dichterischer Ausdruckstechniken beherrschte und es verstand, wichtige Aussagen im Text durch gezielte Gestaltung der Metrik zu unterstreichen und somit gleichsam hörbar zu machen.

Licht sieht die Kaiserin Judith, »eine literatursinnige Frau« (S. 68), als Auftraggeberin des Gedichtes, und nicht etwa Ludwig, der, wie wir von Thegan erfahren, kunstfertiger Dichtung nicht viel abzugewinnen vermochte. Ein kurzes Widmungsgedicht an die Kaiserin, das im Manuskript auf Walahfrids Verse folgt, hat Licht daher ebenfalls mitediert (S. 96f.). Wichtig ist nicht zuletzt die Feststellung, dass Walahfrid in seinem Gedicht mit aller Wahrscheinlichkeit keine eigene politische Programmatik zum Besten gibt, sondern sich an die Vorstellungen und Vorgaben seiner kaiserlichen Auftraggeberin gehalten haben dürfte: »Einem 21jährigen, der versuchte, mit guten Fürsprechern und literarischem Talent sein Fortkommen zu organisieren, stand keine freie Rede, keine ›pointierte Antwort‹ [Matthias Tischler] an« (S. 64).

Mit vielen farbigen Abbildungen, die das Gesagte veranschaulichen, kommt der Band außerdem in optisch ansprechender Aufmachung daher und ist doch preislich sehr erschwinglich. Es handelt sich ohne Frage um einen bedeutenden Beitrag zur frühmittelalterlichen Literaturgeschichte und ganz besonders zur Walahfrid-Forschung.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Till Stüber, Rezension von/compte rendu de: Walahfrid Strabo, De imagine Tetrici. Das Standbild des rußigen Dietrich. Eingeleitet, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Tino Licht, Heidelberg (Mattes Verlag) 2020, 131 S., 16 farb. Abb. (Reichenauer Texte und Bilder, 16), ISBN 978-3-86809-164-9, EUR 12,80., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83640