Der vorliegende Band, der wohl auf eine Konferenz in Nancy zurückgeht, lässt den geneigten Leser mit einigem Stirnrunzeln zurück. Es ist kein roter Faden erkennbar, der Band ist unsagbar schlecht lektoriert – auf die zahlreichen sprachlichen Fehler im Englischen wurde schon an anderer Stelle hingewiesen1 –, bei einem Artikel fehlt das bei anderen Aufsätzen hintangestellte Literaturverzeichnis (Lemler), bei einem anderen ist es unvollständig (Vinzent: Quellen) und die Auswertung jüngerer wissenschaftlicher Literatur wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Es ist erstaunlich, dass der dreisprachige Band das sonst sehr streng gehandhabte Peer-Review-Verfahren des Verlags überstehen konnte, noch dazu, wenn er in einer Reihe zum antiken Christentum erscheint. Dennoch finden sich einige diskussionswürdige Beiträge, auf die einzugehen sein wird.
Auf ein Vorwort von Sylvie Camet und eine zweiseitige »Présentation« der Herausgeberin folgen neun qualitativ sehr unterschiedliche Beiträge, die anscheinend chronologisch angeordnet sind. Eröffnet wird dieser Reigen von einer nachdenkenswerten, aber Fragment bleibenden Untersuchung Daniel Boyarins zur Bezeichnung von »Religion« in der hebräischen Übersetzung des ursprünglich arabisch abgefassten »Sefer Kuzari« des Jehuda Ha-Levi (um 1074/5–1141). Gemeinhin werden das arabische Wort din und sein hebräisches Äquivalent dat mit »Religion« wiedergegeben. Boyarin untersucht die gegen Mitte des 12. Jahrhunderts entstandene Übertragungen aus der Feder des bekannten jüdischen Übersetzers Jehuda ibn Tibbon (1120–1190) auf die Frage, wie dieser jenen Begriff sowie die Bezeichnungen für die Religionsgemeinschaften, die heute als Judentum, Christentum und Islam bekannt sind, übersetzt und deutet. Dabei hält er fest, dass din am ehesten dem koine-griechischen nomos (»[Religions-]Gesetz«) bzw. je nach Kontext dem hebräischen dat (»Gesetz« bezogen auf nichtjüdische Religionskomplexe) und torah (»Weisung« im Blick auf die Religion Israels) entspricht. Die Bezeichnung von Religionsgemeinschaften schließe sich an das muslimische Umma-Konzept an, wobei auffalle, dass Ibn Tibbon Chiffren an die Stelle der arabischen Religionsbezeichnungen setze.
Gilbert Dahan fasst in seinem eher uninspiriert wirkenden Beitrag seine jahrzehntelange Forschung zur Verwendung jüdischer Exegese in den Arbeiten christlicher Exegeten zusammen. Da er sich zwischenzeitlich anderen Fragestellungen zugewendet hat, verwundert nicht, dass er die nach 2000 erschienene, reiche Literatur anderer Autoren zur Thematik kaum verwendet. Auch der Beitrag von Annie Noblesse-Rocher zur Disputation von Mallorca von 1286 wirkt ideenlos und nimmt keine Forschungsliteratur des 21. Jahrhunderts zur Kenntnis2.
David Lemler referiert in einem knappen Beitrag die allegorischen Ansätze zur Bibelauslegung der rabbinischen Exegeten Abraham ibn Ezra (ca. 1090–1167), Samuel ibn Tibbon (1150–1232), Jacob Anatoli (1195–1256) sowie dessen zeitweiligen christlichen Gesprächspartner Michael Scotus (1175–1232).
Israel Yuval gibt eine französische Zusammenfassung des V. Kapitels zum Verhältnis von Pessach und Ostern am Beispiel von Mazza und Hostie seiner vieldiskutierten Studie über die »Zwei Völker in deinem Leib« (engl. 2006; dt. 2007; frz. 2012).
Gleich drei Beiträge widmen sich Meister Eckhart und seinem Verhältnis zum Judentum. Markus Vinzent stellt in seinem bedenkenswerten Artikel die These auf, dass Meister Eckhart (1260–1328/1329) sich in seinen Bibelkommentaren auf rabbinische Exegesen gestützt habe. Dabei spekuliert er, jener habe in Erfurt mit Schülern des Rabbi Meir von Rothenburg im Austausch gestanden, und begründet das mit der Existenz eines hebräischen Einbandfragments in einer Handschrift der Bibliotheca Amploniana. Statt hier ins Spekulative zu verfallen – Einbandfragmente können, aber müssen nicht auf eine Provenienz vor Ort verweisen –, wäre eine denkbare leichtere Brücke allerdings in Eckharts Pariser Zeit zu sehen: Es gab seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine lateinische Auswahlübersetzung von ca. 1300 Sentenzen aus dem gesamten Talmud3, und Meister Eckhart hätte wie sein unmittelbarer franziskanischer Zeitgenosse Nicolaus de Lyra prinzipiell Ramon Martís »Pugio fidei«lesen können. Zudem hatte der Dominikanerbruder über seine Lektüre des Maimonides einen – zugegebenermaßen limitierten – Zugang zu rabbinischem Denken.
Marie-Anne Vannier schließt an Markus Vinzents Ausführungen an und liest aus Meister Eckharts Maimonideslektüre ein weitgefasstes, auch die »Mystik« einbeziehendes hermeneutisches Programm. Ob sich das philologisch-historisch belegen lässt, muss sich zeigen4. Jean-Claude Lagarrigue schließlich geht dem Einfluss der maimonidischen parabolischen Schriftauslegung im Werk Eckharts nach, die bei dem Christen darin gipfele, dass Moses als Autor der Genesis durch Christus substituiert werde.
Der letzte Beitrag des Bandes von Harald Schwaetzer ist der Analyse von zwei Predigten von Nikolaus von Kues gewidmet.
Der Band wird mit zwei sehr knappen Indices (Namen, Themen) beschlossen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Görge K. Hasselhoff, Rezension von/compte rendu de: Marie-Anne Vannier (dir.), Judaïsme et christianisme au Moyen Âge, Turnhout (Brepols) 2019, 149 p., 1 ill. en n/b (Judaïsme ancien et origines du christianisme, 17), ISBN 978-2-503-58421-8, EUR 59,00., in: Francia-Recensio 2021/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.3.83642