Zu Joseph Süß Oppenheimer und seinem Schicksal liegen inzwischen zahlreiche Monographien und Aufsätze vor. Dennoch gelingt Mintzker durch einen polyphonen Ansatz eine neue Perspektive auf die Geschehnisse der Jahre 1737/38. Die historische Person Joseph Süß Oppenheimers ist heute vor allem noch über die Prozessakten greifbar, denn es gibt nur wenige Unterlagen über sein Leben vor seiner Ankunft in Württemberg im Jahr 1733; die zeitgenössischen Quellen sind stark tendenziös. Deswegen stellt Mintzker vier Personen aus dem Umfeld des Hofjuden in den Fokus seiner Darstellung. Multiperspektivisch nähert er sich so quellenmäßig wenig dokumentierten Aspekten der Persönlichkeit von Süß an.

Für seine Untersuchung wählt Mintzker vier Hauptprotagonisten des Verfahrens gegen Süß: Philipp Friedrich Jäger, einen der Untersuchungsrichter, Christoph David Bernard, ein in das Verfahren involvierter Tübinger Universitätslektor, Mordechai Schloß, der Autor des einzigen zeitgenössischen jüdischen Berichts zu Verhaftung, Prozess und Hinrichtung, und David Fassmann, der mit seinen Gesprächen aus dem Totenreich einer der ersten Biographen von Süß wurde. Mintzker steigt mit breiten Archivstudien tief in die Biographien der vier Zeitgenossen ein. Mit kritischer Quellenarbeit gelingen ihm runde Biographien, die für die württembergische Historiographie und die Jud-Süß-Forschung durchaus neu sind.

Der Untersuchungsrichter Philipp Friedrich Jäger kam aus dem württembergischen Schorndorf, besuchte das Stuttgarter Gymnasium und studierte Jura an der Universität Tübingen. Nach einer Tätigkeit am württembergischen Hofgericht sammelte er 1735 als Ankläger erste Erfahrungen in einem politischen Prozess und traf dabei auf Joseph Süß Oppenheimer. Herzog Karl Alexander machte der Mätresse seines Vorgängers, Christina Wilhelmina von Grävenitz, den Prozess, Süß führte im Auftrag des Herzogs die Vergleichsverhandlungen. Mit ausführlichen Quellenpassagen wird der Prozess 1737/38 dargestellt und Jägers Rolle intensiv beleuchtet. Klar arbeitet der Autor Intentionen und persönliche Motivation Jägers als Teil der württembergischen Ehrbarkeit heraus.

Der Jude Christoph David Bernard kam 1713 nach Württemberg und konvertierte dort zum Protestantismus, studierte Theologie am Tübinger Stift, wurde dort Hebräischlehrer und schließlich Dozent an der Universität Tübingen. Im Prozess gegen Süß übersetzte er die beschlagnahmte hebräische Korrespondenz und besuchte Süß im Februar 1738 zweimal im Gefängnis, wo er ihn zur Konversion zu bewegen versuchte. Danach veröffentlichte er darüber einen Bericht in Form eines fiktiven Dialogs, mit dem er sich vor allem selbst inszenierte, weshalb dieser mit einiger Vorsicht zu genießen ist.

Mordechai Schloß (oder Marx Nathan) war ein Frankfurter Jude, der ab 1706 als Hofjude für Herzog Eberhard Ludwig tätig war und in Württemberg lebte. Im Kontext des Süß-Prozesses wurde auch er verhört, im Februar 1738 war auch er bei Süß im Gefängnis. Noch im Frühjahr 1738 beauftragte er seinen Schwiegersohn Callman Seligman mit der Abfassung eines Berichts auf Hebräisch und Jiddisch über Verhaftung, Prozess und Hinrichtung von Joseph Süß Oppenheimer. Dieser Bericht, der stark emotional geprägt und sachlich nicht immer korrekt ist, setzt das Schicksal von Süß parallel mit der alttestamentarischen Geschichte von Joseph und seinen Brüdern.

Die vierte Biographie ist dem Leipziger Autor David Fassmann gewidmet, der mit seinen Gesprächen aus dem Totenreich ab 1718 große literarische Erfolge feiern konnte. In vier seiner etwa 250 publizierten Gespräche spielt Joseph Süß Oppenheimer eine Rolle. Unmittelbar nach dessen Hinrichtung verfasste Fassmann ein Gespräch, in dem Süß den Hauptsprechanteil hat und ausführlich von Gefangenschaft, Prozess und Hinrichtung berichtet.

Zwischen die vier biographischen Kapitel setzt Mintzker etwas überraschende und ungewöhnliche Dialoge mit einem fiktiven Leser, in denen er seine polyphone Herangehensweise erklärt und auf vorausgenommene Kritik an seiner Methode eingeht. Ärgerlich bei der Lektüre sind immer wieder auftretende begriffliche Unschärfen. Beim Hohenasperg handelt es sich um eine Festung, nicht um eine Stadt. Das Stuttgarter Staatsarchiv (z. B. S. 15) und das Stuttgarter Landesarchiv (S. 108) sind das Hauptstaatsarchiv Stuttgart. Ehrbarkeit und Landschaft im frühneuzeitlichen Württemberg gleichzusetzen, ist alles andere als sauber (S. 49, S. 132). Auf dem Umschlag liest man von Herzog Karl Alexander, im Text ist es Herzog Carl Alexander. Es muss allerdings offenbleiben, ob diese Beispiele begrifflicher Ungenauigkeiten vielleicht erst durch die Übersetzung entstanden sind und dadurch nicht auf das Konto des Autors gehen.

Erklärtes Ziel Mitzkers ist es nicht, eine Biographie von Joseph Süß Oppenheimer zu schreiben. Ausführlich begründet er, dass dies durch die dünne Quellenüberlieferung zu zahlreichen Aspekten seines Lebens und durch die ideologisch verfärbte Berichterstattung und Publikationen seit der Verhaftung des Hofjuden wohl nur schwer möglich sein dürfte. Das Ziel des Autors ist es dagegen, neue Perspektiven auf den Stuttgarter Prozess gegen Süß zu eröffnen. Durch die Annäherung an mehrere am Prozess Beteiligte gelingt ihm das durchaus. Er selbst betont, dass der Leser durch die Betrachtung dieser vier Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts auch die Rolle des Opfers Joseph Süß Oppenheimer einnimmt und dessen Wahrnehmung zu einem Teil übernimmt. Auch wenn man in der Interpretation nicht so weit gehen möchte, eröffnet die Studie mehrere neue Blickwinkel auf altvertraute Forschungen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Joachim Brüser, Rezension von/compte rendu de: Yair Mintzker, Die vielen Tode des Jud Süß. Justizmord an einem Hofjuden. Übersetzt von Felix Kurz, Göttingen (V&R) 2020, 261 S., 11 Abb., ISBN 978-3-525-37098-8, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2021/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.84985