Die Erforschung von religiös-kulturellen Minderheiten und Randgruppen stellt insbesondere seit dem Aufkommen des Transkulturalitäts-Paradigmas in den ausgehenden 1990er-Jahren ein florierendes mediävistisches Forschungsfeld dar. Die Fülle an einschlägigen Publikationen wird mit dem hier anzuzeigenden interdisziplinär und dezidiert komparativ angelegten Sammelband zu Interaktionsformen von sogenannten Minderheiten im Mittelmeerraum nicht nur quantitativ um ein weiteres Werk, sondern qualitativ immens bereichert. In den Band fließen die Ergebnisse zweier internationaler Fachtagungen des Jahres 2015 in Cambridge beziehungsweise in Madrid ein, denen weitere Aufsätze ergänzend beigestellt wurden. Dem geografisch wie quellenanalytisch breit gefächerten Tableau an Beiträgen geht eine methodisch-theoretische Einleitung der Herausgeberinnen und des Herausgebers voraus, die zukünftig wohl zu einem der Referenztexte der jüngeren transkulturellen Forschung avancieren dürfte.
Clara Almagro Vidal, Jessica Tearney-Pearce und Luke Yarbrough legen mit Blick auf Forschungs- und Quellensprache konzise die Vorteile, insbesondere aber die Fallstricke des Minderheiten-Konzepts dar: Vor allem moderne Implikationen wie quantitative und hierarchische Assoziationen des Begriffs verstellten den Blick auf überaus heterogene gesellschaftliche Strukturen rund um das Mittelmeer. Um binäre Darstellungen des Verhältnisses zwischen Minderheiten und Mehrheiten aufzubrechen, ist der Band den Interaktionsformen zwischen verschiedenen, gemeinhin als »Minderheiten« gefassten Gruppen gewidmet. »Medieval identity is multidimensional« (S. 11) und die drei abrahamitischen Religionen – so unterstreicht auch John Tolan in seiner Zusammenfassung – sind keine monolithischen Einheiten, wie verbreitete normative Distinguierungen vermitteln (S. 374). Indem nach Fremdzuschreibungen und Eigenwahrnehmungen, jeweiligen Kontexten und dem Spannungsverhältnis zwischen Norm, Praktiken und Diskursivierungen gefragt wird, vermag das Panorama der Beiträge, so der mehr als eingelöste Anspruch der Herausgeber, das Konzept der »Minderheiten« in neuer Weise als relationales Analyseinstrument fruchtbar zu machen.
Die 15 inhaltlichen Aufsätze des Bandes spannen einen breiten Bogen vom 8. bis zum 15. Jahrhundert sowie vom östlichen bis zum westlichen Mittelmeerraum und behandeln exemplarisch rechtlich-diskursive und religiöse ebenso wie literarische und dokumentarische Quellen. Annliese Nef macht mit ihrer fundierten Kritik an der Operationalisierbarkeit des fraglichen Begriffs den Auftakt und resümiert mit Blick auf das Sizilien des 11. und 12. Jahrhunderts, »that ›ethnic‹ and religious categorization might not have been an obsession in all social worlds at any time« (S. 45). Uriel Simonsohn bereichert den Band um eine genuin gender-geschichtliche Perspektive und bringt durch seine Studie zur Wahrnehmung der Rolle von Frauen in gemischt-religiösen Ehen in frühen islamischen Gesellschaften die Erkenntnis zutage, dass diesen als »confessional gatekeepers« (S. 65) eine signifikante Bedeutung und Funktion zugeschrieben worden sei. Auch Alexandra Cuffel analysiert geschlechtersensibel Konversionen im fatimidischen und mamlukischen Ägypten. Sie arbeitet in diesem Zusammenhang die Mechanismen christlich-jüdischer Polemik heraus und konstatiert daneben, dass Muslime dem Phänomen der Konversion von Christen und Juden untereinander in der Tendenz indifferent begegneten. Y. Zvi Stampfer behandelt in seinem Aufsatz ebenfalls christlich-jüdische Polemik und betont, die arabisch-islamische Expansion habe für christlich-jüdische Abgrenzungen keinen fundamentalen Einschnitt bedeutet. Barbara Roggema erschließt ihrerseits bisher wenig bekannte arabische polemische Texte, die Christen des 8. und 9. Jahrhunderts gegen Juden verfassten. Ähnlich wie Stampfer gelangt die Autorin zu dem überzeugenden Urteil: »the two communities of ›People of the Book‹ each defined themselves in opposition to the other and not merely in relation to the ever more dominant world of Islam« (S. 137).
Die Beiträge von Jan Vandeburie, Tamar Boyadjian und Juan Pedro Monferrer-Sala thematisieren Kontakte zwischen verschiedenen Gruppen christlicher Minderheiten. Während Vandeburie die Perspektive des Papsttums zu Wort kommen lässt und anhand von Jacques de Vitry auf das Herantreten lateinischer Christen an levantinische Glaubensgenossen blickt, stellt Boyadjian die poetisierte Perspektive armenischer Christen auf die Lateiner im Kontext des Verlusts von Jerusalem 1187 in den Fokus. Monferrer-Sala, der zu dem armenischen Wasīr Badr al-Jamālī aus Sicht koptischer Christen schreibt, macht besonders die Multidimensionalität dessen, was »Minderheiten« meinen kann, deutlich – insofern als eine die Macht ausübte und die andere die demografische Mehrheit gestellt haben dürfte.
Antonia Bosanquet legt die Analyse eines Werks aus der Feder eines muslimischen Rechtsgelehrten des 14. Jahrhunderts aus Damaskus vor, das eher literarisch anmutet und »as opinion and social commentary about one minority, voiced by a concerned member of another« (S. 227) zu interpretieren sei. Auch die Beiträge von Luke Yarbrough und Alejandro García-Sanjuán befassen sich mit nicht-muslimischen Akteuren im muslimischen Verwaltungs- bzw. Regierungsapparat. Yarbrough wertet hierfür das Werk eines Christen aus, der über seine erfolgreiche Integration reflektiert und mithin die Komplexität von Identität im interreligiösen Setting anschaulich macht. García-Sanjuán beleuchtet mit Gewinn die prominenten jüdischen Wasīre der Banū Naghrīla am granadinischen Zīridenhof des 11. Jahrhunderts. Auch hier löst sich die zweidimensionale religiöse Konstellation in ein heterogenes gesellschaftliches Gesamtpanorama auf, bezieht man die Differenzen zwischen andalusischen Muslimen und Berberstämmen gebührend ein.
Clara Almagro Vidal beschäftigt sich ebenfalls mit iberischen Zusammenhängen, lenkt den Blick jedoch auf ökonomisch motivierte Interaktionsformen von Christen, Juden und Muslimen im Spiegel der höfischen Überlieferung im Kastilien des 14. Jahrhunderts. Besonders hervorzuheben ist das Fazit, Angehörige religiöser Minderheiten fungierten sowohl auf hoher herrscherlicher als auch auf unteren gesellschaftlichen Ebenen als wichtige Mediatoren (»role of go-between« [S. 280]).
Der Aufsatz von Bogdan Smarandache zu muslimischen Minderheiten unter fränkischer Herrschaft im Osten trägt textliche und archäologische Befunde zusammen und schreibt Muslimen eine bedeutende Position in den Kreuzfahrergesellschaften zu. Er bekräftigt somit die Schlussfolgerungen von Almagro Vidal.
Gängige Interpretamente der Transkulturalitätsforschung werden von Ana Echevarria versiert auf den Prüfstand gestellt: Gleichsam im Anschluss an den Beitrag Almagro Vidals zeichnet Echevarria auf Grundlage vornehmlich notariellen Materials Parallelen zwischen den Gemeinden (aljamas) von Juden und Muslimen unter kastilischer Herrschaft nach. Während Echevarria beachtliche Gemeinsamkeiten feststellen kann, bietet Filomena Barros mit ihrer analogen Studie zu Portugal und dem Befund geringer muslimisch-jüdischer Kontakte eine Kontrastfolie.
John Tolan rahmt den Band zuletzt mit einer unbedingt bedeutsamen Reflexion tagesaktueller Bezüge des Generalthemas. Während der Band nachdrücklich versucht, Minderheitenbeziehungen zu erschließen, bis dato weniger thematisierte Quellen prominenter zu machen und bekannte Quellen in ihren gängigen Interpretationen neu auszuleuchten, wird nicht nur dieses Kernvorhaben vollends erfüllt, sondern zugleich das Verhältnis von Minderheiten und Mehrheiten neu aufgearbeitet und in seiner konzeptuell-methodischen Tragfähigkeit gewinnbringend ausgelotet.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sandra Schieweck, Rezension von/compte rendu de: Clara Almagro Vidal, Jessica Tearney-Pearce, Luke Yarbrough (ed.), Minorities in Contact in the Medieval Mediterranean, Turnhout (Brepols) 2020, 388 p., 1 b/w ill. (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, 33), ISBN 978-2-503-58793-6, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2021/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85035