Damien Boquet, der 2016 einen interdisziplinären Sammelband zur »Histoire intellectuelle des émotions de l’Antiquité à nos jours« herausgegeben hat1, widmet sich im vorliegenden Buch nun einer einzigen Emotion, nämlich dem Gefühl der Scham – lateinisch verecundia, französisch »vergogne« – im Mittelalter. Sein Ziel ist es, einen Beitrag zur historischen Anthropologie dieses Gefühls zu leisten, das immer wieder begegnet, wenn von Ehre, Reputation, Strafe oder Buße die Rede ist, aber bisher selten für sich untersucht wurde. Analysiert wird die Scham, die laut Boquet einen beherrschenden Einfluss auf mittelalterliche Gesellschaften ausübte, auf der Grundlage eines begrenzten Textcorpus von 17 Heiligenviten. Wie bereits der Untertitel des Bandes: »Les privilèges de la honte dans l’hagiographie féminine au XIIIe siècle« vermuten lässt, stützt sich Boquet auf Werke, die das Leben religiöser Frauen im 13. Jahrhundert zum Gegenstand haben, die entweder als Reklusen oder Beginen auftraten oder Anschluss an die Zisterzienser oder die neu entstehenden Bettelorden suchten. 13 lateinische Viten betreffen zwölf Frauen aus den südlichen Niederlanden, vor allem aus der Diözese Lüttich. Von den neun Autoren sind fünf, nämlich Jakob von Vitry, Thomas von Cantimpré, Gossuin de Bossuet, Hugo von Floreffe und Philipp von Clairvaux, bekannt. Hervorgehoben seien hier zwei Viten von Marie d’Oignies, die gegen 1215 verstarb, die Lebensbeschreibungen der Ida von Nivelles und der Margarethe von Ypern ebenso wie diejenige der Ida von Löwen, die bis zum Ende des 13. Jahrhunderts lebte. Ergänzt wird dieses Corpus durch die Viten von vier Heiligen aus Umbrien, nämlich Clara von Assisi, Margarethe von Cortona, Clara von Montefalco und Angela von Foligno.

Die Niederschrift dieser Viten erfolgte zwischen dem Vierten Laterankonzil (1215) und dem Konzil von Vienne (1311/12) durch geistliche Autoren, die in unterschiedlichen Beziehungen zu den Frauen standen. Bei aller Vergleichbarkeit der Heiligenviten sind jedoch auch Unterschiede hervorzuheben, die nicht nur die regionale Herkunft der Frauen betreffen, sondern auch die Lebensumstände der mulieres religiosae. Während einige schon als Kind ins Kloster kamen oder dort mit oder ohne Gelübde verstarben, verblieben andere in ihren Familien, wo sie ein heiligmäßiges Leben führten. Auch werden die Lebensbeschreibungen des Franz von Assisi und anderer männlicher Heiligen der Zeit immer wieder zum Vergleich herangezogen.

Unter Einbeziehung des Forschungsstandes untersucht Boquet zunächst den Begriff der Scham aus psychologischer, anthropologischer und historischer Perspektive, wobei er einen Bogen von der Antike (Aristoteles) zum christlichen Verständnis bei den Kirchenvätern schlägt. Da er sich als »Texthistoriker« versteht, nähert er sich dem Gefühl der Scham anhand des Vokabulars und der lexikalischen Häufigkeit seines Auftretens in den Viten. Voneinander abgegrenzt werden die Begriffe verecundia, pudor, rubor/erubescentia und confusio, um das Wortfeld der Scham abzudecken. Sowohl in den niederländischen als auch in den umbrischen Viten tritt der Begriff der verecundia am häufigsten auf. Den lateinischen Begriff verecundia übersetzt Boquet mit französisch »vergogne«. Im Unterschied zu »honte« und »pudeur« wird »vergogne« als Form der Scham verstanden, die den Tadel vorwegnimmt und als Gefühl der Selbstkontrolle und der moralischen Schönheit gilt.

Anders als in der Antike, die die Scham in enger Verbindung mit Erniedrigung und Unehre sah, wird aus der Scham der religiösen Frauen in den analysierten Texten des 13. Jahrhunderts eine »heilige Scham«. Dass die Viten das schamhafte Leben der einzelnen Frauen vor Eintritt ins Kloster betonen, ist ein gängiger Topos. Wichtiger als bei den klausurierten Nonnen aber war die »sainte vergogne« als Flucht vor dem Skandal und der Erhalt der Ehre noch bei den religiösen Frauen, die weiter in der Welt lebten.

So brachte laut Boquet die »sainte vergogne« den Frauen im 13. Jahrhundert trotz ihres Bewusstseins von Schwäche einen Zuwachs an Würde. Paradoxerweise führte das Konzept der heiligen Scham aber dazu, den Aktionsradius der für ihre Lebensweise bewunderten Frauen einzuschränken. Der beherrschende Einfluss des Gefühls der Scham legte soziale Normen und Verhaltensregeln etwa in Bezug auf Kleidung (Schleier), Gesten oder Sprache (Schweigen) der heiligen Frauen fest, während sich dieselben gleichzeitig einem Prozess der Einschließung gegenübersahen.

Boquet zieht die Schlussfolgerung, dass die mulieres religiosae, die von Natur aus durch ihr Geschlecht zu einem bescheidenen und unterwürfigen Leben bestimmt gewesen seien, die Mittel der heiligen Scham genutzt hätten, um daraus ein Instrument der Perfektion und Autorität zu machen. Ihr jeweiliges Leben konnte dadurch zum Exempel werden.

Es liegt aber in der Natur des ausgewählten Textcorpus, der aus der Feder von geistlichen männlichen Autoren stammt, dass die Haltung der Frauen auch als Unterwerfung unter die geistliche und männliche Autorität thematisiert wird. Gerade in der Zeit von 1210 bis 1260 befand sich die Eingliederung der die Nachfolge Christi anstrebenden religiösen Frauen in die verschiedenen Orden auf ihrem Höhepunkt. Es stellt sich daher die Frage, ob das von Boquet aus verschiedenen Perspektiven beleuchtete Konzept der »heiligen Scham« nicht einen von den geistlichen Autoren bewusst gewählten Diskurs darstellt, um dieses Phänomen zu erläutern.

Die ausführliche Studie wird durch 16 Anhänge, eine Bibliografie und zwei Indices abgerundet. Gerade die Kurzfassungen der Lebensbeschreibungen der behandelten religiösen Frauen mit Angaben zur Überlieferung und Forschungsliteratur sowie Ausführungen zu den bekannten Autoren ihrer Viten erleichtern die aufgrund ihres Detailreichtums streckenweise etwas schwer zu lesende Untersuchung wesentlich. Sie wird nicht nur für die Geschichte der Gefühle im Mittelalter, sondern auch für Forschungen zur »Frauenfrage« bei den Orden im 13. Jahrhundert in Zukunft gewinnbringend heranzuziehen sein.

1 Damien Boquet, Piroska Nagy (Hrsg.), Histoire intellectuelle des émotions de l’Antiquité à nos jours, 2016 (L’atelier du Centre de recherches historiques, 16) (https://doi.org/10.4000/acrh.6720 ).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Maria Magdalena Rückert, Rezension von/compte rendu de: Damien Boquet, Sainte vergogne. Les privilèges de la honte dans l’hagiographie féminine au XIIIe siècle, Paris (Classiques Garnier) 2020, 551 p., nombr. tabl. et graph. (POLEN – Pouvoirs, lettres, normes, 18), ISBN 978-2-406-10315-8, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2021/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85039