Die Beschäftigung mit sozialem Frieden, mit dessen Voraussetzungen und Verwirklichung hat in der politischen Theorie des Altertums eine lange Tradition, die von der griechischen Antike über die Römische Republik und Kaiserzeit bis in die Spätantike reicht und mit illustren Namen wie denen eines Aristoteles, Cicero oder Augustinus verbunden ist. Den spätantiken Politiker und Schriftsteller Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator, kurz Cassiodor (ca. 487–583), suchte man bisher vergebens in dieser Reihe, obwohl seine »Variae«, eine Sammlung von ihm in verschiedenen Ämtern am ostgotischen Königshof zwischen 506 und 537 verfasster Schreiben, im Mittelalter nicht nur als Mustervorlagen für angehendes Kanzleipersonal geschätzt, sondern auch als Anleitung für ein friedliches Miteinander heterogener Bevölkerungsgruppen in einem politischen Gemeinwesen rezipiert worden sind, so durch Marsilius von Padua.

Für die Wahrung des sozialen Friedens und damit der Stabilität ihrer Herrschaft war den Ostgotenkönigen im Italien des 6. Jahrhunderts, denen Cassiodor in verschiedenen öffentlichen Ämtern gedient hatte, daran gelegen, auf ein friedliches Miteinander der in kultureller, ethnischer und religiöser Hinsicht heterogenen Bevölkerungsgruppen ihres Reiches hinzuwirken. Beredtes Zeugnis von diesen Bemühungen, so der Ausgangspunkt des hier zu besprechenden Buches von Steffen Boßhammer, würden die »Variae« Cassiodors ablegen. Diese böten nicht nur theoretische Überlegungen zum Thema »innerer«, oder genauer: »sozialer« Frieden – geht es Boßhammer doch um den gesellschaftlichen Zusammenhalt im ostgotischen Italien –, sondern auch konkrete Integrationsstrategien und praktische Lösungsansätze für politische Ordnungsfragen, die der Autor herausarbeiten möchte, um so den Charakter ostgotischer Herrschaft in Italien zu beleuchten und einen Beitrag zur politischen Theorie des Mittelalters zu leisten. Im Zentrum steht die Frage, wie das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher ethnischer und kultureller Hintergründe und verschiedener religiöser Überzeugungen in bewegten Zeiten organisiert wurde.

Aus den »Variae« vermag Boßhammer vier Bedingungen abzuleiten, die Cassiodor als Voraussetzung für die Verwirklichung und den Erhalt sozialen Friedens in einem politischen Gemeinwesen galten und die auch in der modernen politischen Theorie Geltung beanspruchen dürften: Rechtssicherheit, wirtschaftlicher Wohlstand, Entspannung ethnischer, kultureller und religiöser Konflikte sowie der Schutz der Grenzen vor äußeren Bedrohungen (S. 9). Cassiodors theoretisch-rhetorische und praktische Auseinandersetzung mit den genannten vier Bedingungen des »inneren« Friedens sind es auch, die Boßhammers Studie in vier Hauptkapitel strukturieren.

Stets wiederkehrende Themen in den »Variae« seien, so Boßhammer, insbesondere die Sorge um die wirtschaftliche Prosperität Italiens und die ihr vorausgehende Gerechtigkeit, genauer: die Rechtssicherheit. Letztere sei in den Augen Cassiodors durch Korruption, Amtsmissbrauch, Steuerhinterziehung und die Veruntreuung öffentlicher Gelder bedroht. Um diesen Missständen und den daraus resultierenden ökonomischen und sozialen Folgen Herr zu werden, habe Cassiodor nicht nur eine Reihe konkreter Lösungsvorschläge unterbreitet, sondern selbst administrative und wirtschaftspolitische Maßnahmen eingeleitet, wie die Schaffung von Kontrollinstanzen zur Überwachung des Beamtenapparates, eine den Handel belebende Steuer- und Zollpolitik, die gezielte Förderung einzelner Wirtschaftszweige oder Eingriffe in die Preisbildung am Markt (S. 113–127). Indem Boßhammer derlei Maßnahmen allzu bereitwillig Cassiodor zuschreibt und nicht etwa den Herrschern, in deren Namen die Schreiben ausgefertigt wurden, ignoriert er freilich konsequent die öffentliche Funktion, in der Cassiodor die betreffenden Schreiben verfasste, und die mit der jeweiligen Funktion einhergehenden administrativen Kompetenzen.

Ausführlich behandelt der Autor die materielle Absicherung des von Theoderich dem Großen nach Italien geführten militärischen Verbandes. Da insbesondere dessen Ansiedlung, dessen Versorgung mit Grundbesitz und daraus resultierende Eigentumskonflikte das Miteinander zwischen römischen und nicht-römischen Bevölkerungsteilen in Italien und damit den sozialen Frieden im Reich Theoderichs auf die Probe gestellt hätten, geht der Autor der Frage nach, »wie Cassiodor die Ansiedlung und Versorgung der Goten organisierte« (S. 11). Boßhammer verkennt aber, dass die Ansiedlung der gotischen Föderaten bereits seit geraumer Zeit abgeschlossen war, als Cassiodor im Jahre 507 in den Königsdienst eintrat. Federführend bei der Versorgung der Krieger war daher nicht Cassiodor, sondern der damalige Prätoriumspräfekt Liberius, der die Ansiedlung weitgehend geräuschlos abwickelte (»Cassiod. var.« 2.16.5), wie Boßhammer an anderer Stelle einräumt (S. 38). Die vom Autor beigebrachten Belege taugen kaum, die von ihm postulierten Spannungen zwischen Römern und Goten aufgrund der Landverteilung zu beweisen (S. 45), denn sie betreffen entweder Besitzstreitigkeiten unter Römern (»Cassiod. var.« 3.20) oder datieren in die Zeit lange nach der Ansiedlung der gotischen Föderaten (»Cassiod. var.« 5.12, 8.28).

Boßhammer verfolgt die These, Cassiodor habe die Verschmelzung der römischen und gotischen Bevölkerungsteile betrieben (S. 8). Aus diesem Grunde habe er ein in kultureller und religiöser Hinsicht offenes Klima im ostgotischen Italien propagiert und es vermieden, ethnische, kulturelle und religiöse Spannungen zwischen beiden Völkern, welche die bestehende politische Ordnung hätten gefährden können, in seinen Schreiben zu thematisieren (S. 145). Inwiefern allerdings das Verdrängen ethnischer, kultureller oder religiöser Konflikte bei deren Lösung hilft, erschließt sich dem Rezensenten nicht. Mit seiner These eines politischen Programmes Cassiodors, das auf ein friedliches Miteinander durch »Verschmelzung« von Römern und Goten abgezielt habe (S. 14–15), will der Autor der gängigen Forschungsmeinung widersprechen, am Hofe Theoderichs des Großen sei eine auf die Separation beider Völker abstellende Integrationspolitik verfolgt worden1. Jedoch lässt Boßhammer sowohl die Tatsache, dass die Ostgotenkönige in den »Variae« unablässig als Herrscher über zwei Völker – Goten und Römer – dargestellt werden (Cassiod. var. 1.17, 1.28, 2.19, 3.48), als auch deren getrennten Gerichtsstand unberücksichtigt. Zudem setzt ein friedliches Miteinander verschiedener Bevölkerungsgruppen keineswegs deren Verschmelzung voraus, während die Beibehaltung kultureller oder religiöser Eigenheiten bestimmter Bevölkerungsgruppen ein friedvolles Zusammenleben nicht ausschließt.

Boßhammer gebührt das wertvolle Verdienst, das in den »Variae« verstreute Material zum Thema »sozialer« Friede und gesellschaftlicher Zusammenhalt für das ostgotische Italien zusammengetragen und für weitergehende Analysen aufbereitet zu haben. So könnte eine stärkere Kontextualisierung der jeweiligen Schreiben, die Berücksichtigung einzelner Akzeptanzgruppen, auf deren Kooperation die Ostgotenkönige in der Ausübung ihrer Herrschaft angewiesen waren, aber auch der jeweiligen Amtsstellung Cassiodors, in der er die einzelnen Schreiben verfasste, zu einer noch differenzierteren Betrachtung fortwährender Aushandlungsprozesse sozialen Friedens im ostgotischen Italien führen. Dessen ungeachtet unterstreicht Boßhammers Studie einmal mehr den Wert der »Variae« als Quelle für die Politik und Kultur im spätantiken Italien und die Bedeutung Cassiodors nicht nur als Vermittler antiken Bildungsgutes, als solcher er bereits im Mittelalter geschätzt wurde, sondern auch vormoderner politischer Theorien, die noch für heutige Diskurse um sozialen Frieden anschlussfähig sind.

Allerdings bleibt die Aussagekraft der Befunde Boßhammers aus mehreren Gründen begrenzt. Zum einen wird die Problematik der Rechtsstellung Theoderichs in Italien und die damit aufs engste verknüpfte Frage nach der Legitimation der Amalerherrschaft lediglich angerissen (S. 4). Jedoch ist diese nicht unwesentlich für das Verständnis des in den »Variae« propagierten politischen Programms. Den in diesem Zusammenhang zu berücksichtigenden Traditionen römischer Herrscherpanegyrik, denen Cassiodor verhaftet war, schenkt Boßhammer kaum Beachtung, sondern begnügt sich mit der bloßen Feststellung von Parallelen zwischen (spät-)antikem Herrscherlob und den »Variae« Cassiodors (S. 92f.).

Zum anderen werden für die Analyse der »Variae« wesentliche Fragen zu ihrer Entstehung nur am Rande berührt. Zwar schneidet der Autor die seit dem 19. Jahrhundert in der Forschung kontrovers diskutierte Frage an, ob das in den »Variae« transportierte politische Programm lediglich von Cassiodor ausformuliert wurde, im Kern aber den Ostgotenkönigen zuzuschreiben sei oder ob Cassiodor selbst Urheber der politischen Maximen gewesen sei (S. 25f.). Eine Positionierung vermeidet Boßhammer jedoch, sodass er das politische Gedankengut – ja selbst politische Entscheidungen – wahlweise den Königen oder Cassiodor zuschreibt, ohne dass in der Zuschreibung eine Systematik erkennbar ist. Dies führt dazu, dass die Amaler als Akteure mitunter gänzlich von der politischen Bühne verschwinden. Hier bietet sich ein Vergleich mit anderen zeitgenössischen Quellen aus dem Ostgotenreich als Kontrastfolie an, wie dem »Edictum Theoderici« oder dem »Panegyricus regi Theoderico« des Magnus Felix Ennodius, die nahelegen, dass das politische Programm unter Theoderich bereits weitgehend ausgeformt war, als Cassiodor in den Königsdienst eintrat2. Obschon kurz erwähnt (S. 7, Anm. 25), hat überdies die umstrittene, aber einflussreiche These Shane Bjornlies, wonach Cassiodor seine Schreiben erst Mitte des 6. Jahrhunderts, während eines Aufenthalts in Konstantinopel überarbeitet, zusammengestellt und veröffentlicht haben soll, um nachträglich die Kollaboration italischer Eliten mit den Amalern zu rechtfertigen3, keinerlei Auswirkung auf die vorliegende Studie. Nimmt man Bjornlies These ernst, ließen sich über den ursprünglichen Inhalt und die ursprüngliche rhetorische Ausgestaltung der Schreiben, auf die es Boßhammer aber ankommt, kaum noch belastbare Aussagen treffen, sodass sie schwerlich als Quelle für die Regierung Theoderichs des Großen und seiner Nachfolger taugen könnten. Daher wäre eine kritische Diskussion nicht nur der These Bjornlies zu erwarten gewesen, um den eigenen Befunden ein stabileres Fundament zu geben.

1 Vgl. Hans-Ulrich Wiemer, Theoderich der Große. König der Goten – Herrscher der Römer. Eine Biographie, München 2018, S. 193–205.
2 Stefan Krautschick, Cassiodor und die Politik seiner Zeit, Bonn 1983 (Habelts Dissertationsdrucke. Reihe Alte Geschichte, 17), S. 121; Hans-Ulrich Wiemer, Theoderich der Große. König der Goten – Herrscher der Römer: Eine Biographie, München 2018, S. 198.
3 Shane M. Bjornlie, Politics and Tradition between Rome, Ravenna and Constantinople. A Study of Cassiodorus and the Variae, 527–554, Cambridge 2013 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Ser. 4, 89), S. 331-333.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Christian Stadermann, Rezension von/compte rendu de: Steffen Boßhammer, Wege zum Frieden im nachrömisch-gotischen Italien. Programmatik und Praxis gesellschaftlicher Kohärenz in den Variae Cassiodors, Berlin, Boston, MA (De Gruyter) 2021, VIII-306 S., ISBN 978-3-11-070677-2, EUR 99,95., in: Francia-Recensio 2021/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2021.4.85040